Der junge Goedeschal - Roman
beurteilen.«
Schweigen. Vor Kais Augen stieg die Vision des trockenen, mit Kies bestreuten Schulhofs auf. Wenn sie dort in den Pausen zu Gruppen vereinigt herumstanden, bildete diese Art Gespräche, mit ihren gereizten, sterilen Antworten, ihrem nur Abweisen-Wollen das Gemeingültige. Aber hier! Schon steckten die Mädchen die Köpfe zusammen und machten sich über ihn lustig. Vor Scham und Schmerz presste er die Fingernägel tief in die Handflächen.
Fräulein Reiser sagte: »Meine Freundin Ilse sagt mir eben,dass Sie Ihnen jeden Morgen begegnet, Herr Goedeschal, wenn Sie ins Gymnasium gehen.«
»Ja, Herr Goedeschal ist so pünktlich. Wenn ich ihn noch in der Bülowstraße treffe, weiß ich, dass noch viel Zeit ist. Aber beim Treffen in der Oberstraße muss ich sehr eilen.« Ihr Blick ruhte auf ihm, der Klang ihrer Stimme schien sich in seiner Ohrmuschel verfangen zu haben und dort nachzutönen, tief und voll, wie er aus ihrer Brust kam. Zusammenschreckend bemerkte Kai die Blicke, die auf ihm ruhten, und erinnerte sich, dass er würde antworten müssen.
»Ist das nicht ein Irrtum, gnädiges Fräulein? Sie sind mir nie aufgefallen.«
Sie lachten. Arne fragte fröhlich: »Sehr höflich bist du nicht, Kai.«
Klotzsch rief: »Bedanke dich für das Kompliment, Ilse!«
»Sie müssen entschuldigen, gnädiges Fräulein, ich bin so sehr kurzsichtig. Und dann – dann – ich sehe nicht gern die Leute auf der Straße an und mag nicht, dass sie mich wieder ansehen.«
Die andern lachten schon wieder. Kai warf einen raschen Blick auf das Klavier, aber der Spieler unterhielt sich noch mit dem Tanzlehrer. Fing es denn nie wieder an?
»Sie dürfen mich nicht falsch verstehen. Gegen den Einzelnen habe ich gar nichts. Aber dies gegenseitige Sichbeobachten, Prüfen, Messen ist schrecklich. Dies Gefrage mit den Augen: Wer bist du?«
»Ich mag das gerade gern«, rief Klotzsch, und auch Arne lächelte vor sich hin, wenn er jener ersten Versuche gedachte, mit den Mädchen Blickgefechte zu führen. Es war süß, das Auge so lange im andern ruhen, versinken, tauchen zu lassen, bis dies abirrte und leise aufgehende Röte Hals und Gesicht des Mädchens überspülte.
Aber Ilse Lorenz rief: »Das versteh ich gut, es ist so zudringlich!«
»Ja«, sagte Kai, »es ist zudringlich. Kennen Sie ›Jettchen Gebert‹? Schade. Das Buch müssen Sie lesen. Wenn Sie mögen, leih ich es Ihnen einmal.«
»Gerne.«
»Ja, da wird gleich im Anfang erzählt, wie Jettchen schön und stolz die Straße heruntergeht, und alle sehen ihr nach. Ach ja, so etwas Schönes und Stolzes, das darf man ansehen, das bleibt deswegen doch schön und stolz und fern, aber wir …« Er wagte nicht, weiterzureden.
»Ja, Kai, du meinst, wir gewöhnliche Sterbliche, da lohnt es sich nicht«, fragte Arne.
»Nein«, sagte Fräulein Reiser, »ich fühle wohl, was Herr Goedeschal meint, dass …«
Da setzte der Klavierspieler wieder ein. Die Herren verbeugten sich und im Umdrehen waren die Damen fortgewirbelt, einen Augenblick sah Kai noch das blassblaue Kleid von Irene, der dunkle Scheitel Ilses tauchte zwischen den Tänzern auf und verging, dann stand er wieder allein.
6
Er war allein, und nun, da er von den leer gewordenen Stühlen zum Saalende zurücktrat, bedauerte er schon, dass dieses so leicht verlaufene Gespräch nicht länger gewährt hatte. Indem er die Augen schloss, erinnerte er sich an ein leises Lächeln von Ilse, ein Lächeln, das wie ein Stern über der leichten Melancholie ihres Gesichtes aufgegangen war. Es schien ihm, als müsse er dies ihm gewährte Lächeln um den Mund gleich einem Vermächtnis tragen.
»Nun ist alles gut«, sagte er zu sich und ließ seine Augen ruhiger durch den Saal gehen, dessen Gewirr ihn nicht mehr erschreckte. »Ist nicht jetzt mit dem ersten Schritt auch der schwerste getan? Beim Wiedersehen werde ich an die schon gesprochenen Worte anknüpfen können, ein Weg liegt vor mir, und ich, ich werde ihn gehen.«
Aber sosehr er sich mühte, nur Freude zu empfinden, meinte er doch, auf seiner Zunge einen bitteren Geschmack zu spüren, irgendwo saß ein Widerhaken und peinigte ihn. »Warum freue ich mich nicht?«, fragte er. »Waren die Mädchen nicht gut zu mir?«
Er schwieg. Das Lächeln verging ganz, und plötzlich war alles wieder da, alles von vorhin: Scham, Demütigung, Neid und Selbstverachtung. Nun fiel es ihm ein: das Köpfezusammenstecken, rasche Blicke der beiden Mädchen, ihre Worte, die ihm Brücken bauen sollten.
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