Der Junge
ganz starr, wenn das Prügeln losgeht. Durch das Führen dieses Doppellebens hat er sich die Last der Hochstapelei aufgeladen. Kein anderer muß so etwas ertragen, nicht einmal sein Bruder, der höchstens eine ängstliche, fade Imitation von ihm ist. Im Grunde genommen hat er den Verdacht, daß sein Bruder eigentlich normal ist. Er steht ganz allein da. Von keiner Seite kann er Hilfe erwarten. Er muß sich selbst darum kümmern, daß er die Kindheit irgendwie hinter sich bringt, die Familie und die Schule, und ein neues Leben erreicht, in dem er nichts mehr vortäuschen muß.
Die Kindheit, steht in der Enzyklopädie für Kinder, ist eine Zeit der unschuldigen Freude, die man in den Wiesen zwischen Butterblumen und Häschen verbringt oder am Kamin, in ein Märchenbuch vertieft. Das ist eine Sicht auf die Kindheit, die ihm völlig fremd ist. Nichts was er in Worcester, zu Hause oder in der Schule, erlebt, bringt ihn auf den Gedanken, daß die Kindheit etwas anderes ist als eine Zeit, in der man die Zähne zusammenbeißen und durchhalten muß.
Weil es keine Wölflingsgruppe in Worcester gibt, bekommt er die Erlaubnis, sich den Pfadfindern anzuschließen, obwohl er erst zehn ist. Für die Aufnahme bereitet er sich peinlich genau vor. Mit seiner Mutter geht er zum Spezialgeschäft, um die Uniform zu kaufen: den steifen olivbraunen Filzhut und das silberne Hutabzeichen, Khakihemd und -shorts und Strümpfe, Ledergürtel mit Pfadfinderschnalle, grüne Achselklappen, grüne Strumpfabzeichen. Er schneidet sich einen fünf Fuß langen Stock von einer Pappel, schält die Rinde ab und bringt einen Nachmittag damit zu, das gesamte Morse- und Winkeralphabet mit einem erhitzten Schraubenzieher in das weiße Holz zu brennen. Zu seinem ersten Pfadfindertreffen geht er mit seinem Stock, den er an einer grünen Kordel, die er selbst aus drei Stricken geflochten hat, über der Schulter trägt. Er schwört mit dem zweifingrigen Gruß und ist der bei weitem am makellosesten ausstaffierte der neuen Pfadfinder, der »Grünschnäbel«.
Er stellt fest, daß es bei den Pfadfindern genau wie in der Schule darum geht, Prüfungen zu bestehen. Für jede bestandene Prüfung bekommt man ein Abzeichen, das man sich auf das Hemd näht.
Die Prüfungen werden in einer vorbestimmten Reihenfolge abgelegt. Die erste Prüfung besteht im Knotenknüpfen: der Kreuzknoten und der doppelte Kreuzknoten, der Verkürzungsstek, der Palstek. Er besteht die Prüfung, doch nicht mit Auszeichnung. Es ist ihm nicht klar, wie man diese Pfadfinder-Prüfungen mit Auszeichnung bestehen, wie man sich hervortun kann.
Die zweite Prüfung ist für ein Waldarbeiter-Abzeichen. Man verlangt dabei von ihm, daß er ein Feuer anzündet, ohne Papier und mit nicht mehr als drei Streichhölzern. Auf dem nackten Boden neben der anglikanischen Kirche schichtet er an einem Winterabend mit einem kalten Wind seinen Haufen aus Zweigen und Rindenstücken, und dann zündet er unter den Blicken seines Scharführers und des Gruppenführers seine Streichhölzer eins nach dem anderen an. Jedesmal kommt kein Feuer zustande – jedesmal bläst der Wind die winzige Flamme aus. Der Gruppenführer und der Scharführer gehen fort. Sie sprechen die Worte: »Du hast nicht bestanden« nicht aus, deshalb ist er unsicher, ob er wirklich durchgefallen ist. Was, wenn sie sich zu einer Beratung zurückziehen und zum Schluß kommen, daß die Prüfung wegen des Windes ungültig ist? Er wartet auf ihre Rückkehr. Er wartet darauf, daß ihm das Waldarbeiter-Abzeichen trotzdem überreicht wird. Doch nichts geschieht. Er steht neben seinem Haufen Zweige, und nichts geschieht.
Keiner erwähnt die Sache wieder. Das ist die erste Prüfung in seinem Leben, die er nicht bestanden hat.
Jede Juniferien fährt die Pfadfindertruppe in ein Zeltlager. Er ist nie von seiner Mutter weg gewesen, abgesehen von einer Woche, die er mit vier Jahren im Krankenhaus zugebracht hat. Doch er ist entschlossen, mit den Pfadfindern zu fahren.
Sie bekommen eine Liste mit Sachen, die sie mitbringen sollen. Dazu gehört eine Zeltplane. Die Mutter hat keine Zeltplane, sie weiß nicht einmal genau, was eine Zeltplane ist. Sie gibt ihm dafür eine rote Luftmatratze. Im Lager entdeckt er, daß alle anderen Jungen richtige khakifarbene Zeltplanen haben. Seine rote Matratze isoliert ihn sofort von den anderen. Er bringt es auch nicht fertig, sich über einer stinkenden Erdgrube zu entleeren.
Am dritten Tag des
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