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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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keine andere Hausfrau in Reunion Park ein Fahrrad besitzt, dann sollten Frauen vielleicht wirklich nicht radfahren.
      Hinten im Hof versucht es sich die Mutter selbst beizubringen. Sie spreizt die Beine und rollt die Böschung hinunter zum Hühnerauslauf. Das Rad kippt um und hört auf zu rollen. Weil es keine Querstange hat, fällt sie nicht, sondern torkelt nur einfältig herum, die Lenkstange umklammernd.
      Sein Herz wendet sich von ihr ab. Am Abend beteiligt er sich an den Witzen des Vaters. Es ist ihm nur zu bewußt, welchen Verrat das bedeutet. Jetzt ist seine Mutter ganz allein.
      Trotzdem lernt sie radfahren, wenn auch unsicher und wacklig, mühsam die schweren Pedale bewegend.
      Am Vormittag, wenn er in der Schule ist, macht sie ihre Ausflüge nach Worcester. Nur einmal bekommt er sie flüchtig auf ihrem Rad zu sehen. Sie trägt eine weiße Bluse und einen dunklen Rock und radelt die Pappelallee hinunter auf das Haus zu. Ihre Haare fliegen im Wind. Sie sieht jung aus, wie ein Mädchen, jung und frisch und geheimnisvoll.
      Immer wenn sein Vater das schwere schwarze Fahrrad an der Hauswand lehnen sieht, macht er Witze darüber. In seinen Witzen unterbrechen die Bürger von Worcester ihre Arbeit und starren der Frau, die sich auf dem Fahrrad vorüberquält, hinterher. Trap! Trap! rufen sie spöttisch: Feste treten! Die Späße sind überhaupt nicht lustig, obwohl er immer mit seinem Vater über sie lacht. Seine Mutter hat dem nichts entgegenzusetzen, sie ist nicht schlagfertig. »Lacht, soviel ihr wollt«, sagt sie.
      Dann gibt sie eines Tages ohne Erklärung das Radfahren auf. Kurz darauf verschwindet das Fahrrad. Keiner sagt ein Wort, doch er weiß, daß sie eine Niederlage erlitten hat, in die Schranken gewiesen worden ist, und er weiß, daß auch er daran schuld ist. Ich mache es eines Tages wieder gut, gibt er sich das Versprechen.
      Er vergißt seine Mutter auf dem Fahrrad nicht. Sie radelt die Pappelallee hinunter, weg von ihm, ihren eigenen Wünschen entgegen. Er will nicht, daß sie fortfährt. Er will nicht, daß sie eigene Wünsche hat. Er möchte, daß sie immer zu Hause bleibt und ihn erwartet, wenn er heimkommt. Nicht oft verbündet er sich mit seinem Vater gegen sie; sonst neigt er immer dazu, sich mit ihr gegen den Vater zu verbünden. Doch in diesem Fall schlägt er sich auf die Seite der Männer.

Zwei
    Seiner Mutter verrät er nichts. Sein Schulleben hält er streng geheim vor ihr. Sie soll nichts wissen, beschließt er, als das, was in seinem Quartalszeugnis steht, und das soll makellos sein. Er wird immer der Klassenerste sein. Sein Betragen wird immer ›Sehr gut‹ sein, seine Fortschritte ›Ausgezeichnet‹. Solange das Zeugnis tadellos ist, hat sie kein Recht, Fragen zu stellen. Diese Regel stellt er für sich auf.
      Was in der Schule passiert, ist, daß Jungen verprügelt werden. Jeden Tag passiert das. Den Jungen wird befohlen, sich zu bücken und die Zehen zu berühren, und dann werden sie mit einem Stock verprügelt.
      In der dritten Klasse hat er einen Schulkameraden, der Rob Hart heißt und den die Lehrerin besonders gern schlägt. Die Lehrerin der dritten Klasse ist eine reizbare Frau mit rot gefärbtem Haar, eine Miss Oosthuizen. Von irgendwoher ist sie seinen Eltern als Marie Oosthuizen bekannt – sie macht bei Theateraufführungen mit und war nie verheiratet. Offensichtlich hat sie ein Leben außerhalb der Schule, doch er kann es sich nicht vorstellen. Er kann sich bei keinem Lehrer vorstellen, daß er ein Leben außerhalb der Schule hat.
      Miss Oosthuizen bekommt Wutanfälle, befiehlt Rob Hart, aus seiner Bank zu kommen und sich zu bücken, und versohlt ihm den Hintern. Die Schläge fallen dicht hintereinander, so daß der Stock kaum Zeit hat, auszuholen. Wenn Miss Oosthuizen fertig mit ihm ist, hat Rob Hart ein gerötetes Gesicht. Doch er weint nicht; vielleicht ist er ja nur rot geworden, weil er sich gebückt hat. Miss Oosthuizens Brust andererseits hebt und senkt sich heftig, und sie scheint den Tränen nahe – den Tränen und anderen Ergüssen.
      Nach diesen Anfällen ungezügelter Leidenschaft ist die ganze Klasse gedämpft und bleibt so bis zum Klingeln.
      Es gelingt Miss Oosthuizen nie, Rob Hart zum Heulen zu bringen; vielleicht ist das der Grund, warum sie solche Wutausbrüche seinetwegen hat und ihn so heftig schlägt, heftiger als alle anderen. Rob Hart ist der Klassenälteste, fast zwei Jahre älter als er (er ist der jüngste); er

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