Der Junge
die gesagt haben, sie seien evangelisch, gehen fort zur Andacht.
Sie warten ab, was passiert. Doch nichts passiert. Die Korridore sind leer, im Gebäude ist es still, es sind keine Lehrer zu sehen.
Sie schlendern auf den Schulhof, wo sie sich dem Haufen der anderen zurückgebliebenen Jungen anschließen. Es ist Murmelsaison; in der ungewohnten Stille des leeren Hofes, wo Taubenrufe oben in der Luft und von fern Gesang zu hören sind, spielen sie mit Murmeln. Die Zeit verstreicht. Dann läutet es zum Ende der Morgenandacht. Die übrigen Schüler marschieren in Reihen aus der Aula, eine Klasse nach der anderen. Einige scheinen schlechter Laune zu sein. »Jood!« zischt ihn ein Afrikaanerjunge im Vorbeigehen an: Jude! Als sie sich wieder ihrer Klasse anschließen, lächelt keiner.
Die Episode beunruhigt ihn. Er hofft, daß man ihn und die anderen neuen Schüler noch einmal zurückhält und auffordert, neu zu wählen. Dann kann er, der offensichtlich einen Fehler gemacht hat, sich korrigieren und evangelisch sein. Doch es gibt keine zweite Gelegenheit.
Zweimal die Woche wiederholt sich die Trennung der Schafe von den Geißböcken. Während Juden und Katholiken sich selbst überlassen bleiben, gehen die evangelischen Christen zur Morgenandacht, singen Kirchenlieder und bekommen eine Predigt zu hören. Als Rache dafür, und als Rache für das, was die Juden Christus angetan haben, fangen die Afrikaanerjungen – groß, brutal, bullig – manchmal einen Juden oder einen Katholiken und boxen ihm in den Bizeps, kurze, tückische Schläge mit den Knöcheln, oder stoßen ihm die Knie in die Eier oder drehen ihm die Arme auf den Rücken, bis er um Gnade fleht. »Asseblief!« wimmert der Junge: Bitte! »Jood!« zischen sie zur Antwort: »Jood! Vuilgoed!« Jude! Dreck!
Eines Tages nehmen ihn zwei Afrikaanerjungen in der Pause in die Zange und zerren ihn in die entlegenste Ecke des Rugbyfeldes. Einer von ihnen ist sehr groß und fett. Er fleht sie an. »Ek is nie ‘n Jood nie«, sagt er: Ich bin kein Jude. Er bietet ihnen an, daß sie sein Fahrrad benutzen dürfen, bietet ihnen das Fahrrad für den Nachmittag an. Je mehr er plappert, desto breiter grinst der Fette. Das mag er offensichtlich: das Flehen, die Erniedrigung.
Der Fette holt etwas aus seiner Hemdtasche hervor, etwas, was allmählich erklärt, warum er in diesen ruhigen Winkel gezerrt worden ist: eine sich windende grüne Raupe. Der Freund dreht ihm die Arme auf den Rücken; der Fette preßt auf seine Kiefergelenke, bis sich sein Mund öffnet, dann stopft er ihm die Raupe in den Mund. Er spuckt sie aus, sie ist schon beschädigt, sondert schon ihre Körpersäfte ab. Der Fette zerquetscht sie und schmiert sie ihm über die Lippen. »Jood!« sagt er und wischt sich die Hände im Gras ab.
Er hatte sich an diesem schicksalsträchtigen Morgen für römisch-katholisch entschieden wegen Rom, wegen Horatius und seinen beiden Kameraden, die mit Schwertern in der Hand, verzierte Helme auf dem Kopf, unbezähmbaren Mut im Blick, die Brücke über den Tiber gegen die etruskischen Horden verteidigten. Jetzt entdeckt er nach und nach durch die anderen katholischen Schüler, was römisch-katholisch wirklich bedeutet. Römisch-katholisch hat nichts mit Rom zu tun. Römisch-katholische Christen kennen Horatius nicht einmal vom Hörensagen. Römisch-katholische Christen gehen freitagnachmittags zum Katechismus; sie gehen zur Beichte; sie empfangen die Kommunion. Das machen die römisch-katholischen Christen.
Die älteren katholischen Schüler nehmen ihn beiseite und fragen ihn aus: Ist er zum Katechismus gewesen, ist er zur Beichte gewesen, hat er die Kommunion empfangen? Katechismus? Beichte? Kommunion? Er weiß nicht einmal, was die Worte bedeuten. »Früher in Kapstadt bin ich hingegangen«, weicht er aus. »Wo?« fragen sie. Er kennt keine Kirche in Kapstadt mit Namen, doch sie auch nicht. »Komm am Freitag zum Katechismus«, befehlen sie ihm. Als er nicht erscheint, informieren sie den Priester, daß es in Klasse Drei einen Apostaten gibt. Der Priester schickt eine Botschaft, die sie übermitteln: Er muß zum Katechismus kommen. Er hat den Verdacht, daß sie die Botschaft selbst erfunden haben, doch am nächsten Freitag bleibt er zu Hause und im Bett.
Die älteren katholischen Schüler machen ihm nun klar, daß sie ihm seine Geschichten, er sei in Kapstadt Katholik gewesen, nicht abnehmen. Aber er ist schon zu weit gegangen, er kann nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher