Der Junge
Zeltlagers gehen sie im Breede-Fluß schwimmen. Obwohl er und sein Bruder und ihr Cousin, als sie in Kapstadt wohnten, oft mit dem Zug nach Fish Hoek fuhren und dort ganze Nachmittage lang über die Felsen kletterten, Sandburgen bauten und in den Wellen herumplanschten, kann er nicht richtig schwimmen. Jetzt, als Pfadfinder, muß er über den Fluß und wieder zurück schwimmen.
Er haßt Flüsse, weil sie so schmutzig-trüb sind, weil ihm der Schlamm zwischen den Zehen durchquillt, weil er auf rostige Blechbüchsen und Scherben treten könnte; er zieht weißen Seesand vor. Doch er stürzt sich hinein und paddelt wild spritzend irgendwie hinüber. Am anderen Ufer klammert er sich an eine Baumwurzel, findet einen Fußhalt und steht bis zur Taille in trübem braunen Wasser, mit klappernden Zähnen.
Die anderen Jungen machen kehrt und machen sich auf den Rückweg. Er bleibt allein zurück. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich wieder ins Wasser zu werfen.
In der Mitte des Flusses ist er erschöpft. Er hört zu schwimmen auf und versucht, Grund zu finden, doch der Fluß ist zu tief. Sein Kopf taucht unter die Wasseroberfläche. Er versucht, wieder hochzukommen und zu schwimmen, aber die Kraft reicht nicht aus. Er geht ein zweites Mal unter.
Er hat eine Vision: seine Mutter sitzt auf einem Stuhl mit hohem, geradem Rücken und liest den Brief, der von seinem Tod berichtet. Der Bruder steht neben ihr und liest über ihre Schulter mit.
Das nächste, was er mitbekommt, ist, daß er am Ufer liegt und sein Scharführer, der Michael heißt und den er aus Schüchternheit nie angesprochen hat, breitbeinig über ihm steht. Er schließt die Augen und ihm ist wohl zumute. Er ist gerettet.
Noch Wochen danach denkt er an Michael, wie Michael sein Leben riskiert hat, in den Fluß gesprungen ist und ihn gerettet hat. Jedesmal denkt er dann, wie wunderbar es doch ist, daß Michael es bemerkt hat – ihn bemerkt hat, bemerkt hat, daß er am Ende war. Verglichen mit Michael (der in Klasse sieben geht und alle Abzeichen hat, außer den höchsten, und bald Königspfadfinder sein wird) ist er unbedeutend. Es wäre ganz in Ordnung gewesen, wenn Michael ihn nicht untergehen gesehen hätte, ja, ihn nicht einmal vermißt hätte, bis alle wieder im Lager waren. Dann wäre Michaels Aufgabe einfach gewesen, den Brief an die Mutter zu schreiben, den kühlen, förmlichen Brief, der so anfing: »Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen…«
Von diesem Tag an weiß er, daß etwas Besonderes an ihm ist. Er hätte sterben sollen, doch er ist nicht gestorben. Trotz seiner Unwürdigkeit ist ihm ein zweites Leben geschenkt worden. Er war tot und ist doch lebendig.
Von dem Vorfall im Zeltlager verrät er der Mutter kein Sterbenswörtchen.
Vier
Das große Geheimnis seines Schullebens, das Geheimnis, das er keinem zu Hause verrät, besteht darin, daß er römischkatholisch geworden ist, daß er tatsächlich römischkatholisch »ist«.
Das Thema läßt sich zu Hause schlecht zur Sprache bringen, weil ihre Familie nichts »ist«. Sie sind natürlich Südafrikaner, doch das Südafrikanertum ist ein wenig peinlich, und man spricht deshalb nicht darüber, weil nicht jeder, der in Südafrika lebt, Südafrikaner ist, jedenfalls kein richtiger Südafrikaner.
Der Religion nach sind sie ganz bestimmt nichts. Nicht einmal in der Familie des Vaters, die viel zuverlässiger und normaler ist als die der Mutter, geht irgendeiner in die Kirche. Er selbst ist nur zweimal im Leben in einer Kirche gewesen: einmal, um getauft zu werden, und einmal, um den Sieg im Zweiten Weltkrieg zu feiern.
Die Entscheidung, römisch-katholisch zu »sein«, geschah ganz spontan. Am ersten Morgen in der neuen Schule werden er und die drei anderen neuen Schüler zurückgehalten, während die übrige Klasse zur Morgenandacht in die Aula geführt wird. »Welcher Konfession bist du?« fragt die Lehrerin jeden von ihnen. Er blickt nach rechts und nach links. Wie lautet die richtige Antwort? Was gibt es für Konfessionen zur Auswahl? Ist es wie bei Russen und Amerikanern? Jetzt ist er an der Reihe. »Welcher Konfession bist du?« fragt die Lehrerin. Er schwitzt, er weiß nicht, was er sagen soll. »Bist du evangelisch oder römisch-katholisch oder jüdisch?« fragt sie ungeduldig. »Römisch-katholisch«, sagt er.
Als die Befragung vorbei ist, wird ihm und einem anderen Schüler, der sich als jüdisch bezeichnet hat, bedeutet, dazubleiben; die zwei,
Weitere Kostenlose Bücher