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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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von mir entfernt«, sagte Großvater. »Und auf einmal war ich mir sicher, dass sie es schaffen würde.« Von hinten drängten die Akrobaten, begannen schon, ihre Arme auszustrecken, die Zuschauer hielt es nicht mehr in ihren Sitzen, einer nach dem anderen wagte sich zum Bühnenrand vor, Kinder saßen auf den Schultern ihrer Eltern, vollkommen Fremde hielten einander an der Hand. »Zwei Schritte noch«, sagte Großvater, »ich konnte Lian bereits riechen, ich sah jedes geplatzte Äderchen in ihren Augen«, sie machte einen weiteren Schritt, auch Großvater streckte ihr nun seinen Arm entgegen, und alles Zugemauerte in ihrem Blick brach auf, der Brunnen lag wieder frei und sprudelte wild. Lian hob ihren linken Fuß zum letzten Schritt, mit den Fingerspitzen berührte sie schon Großvaters Hand.
    »Eine Zehntelsekunde zu früh brach der Jubel aus«, sagte Großvater und zerbrach das Essstäbchen zwischen seinen Fingern, »nur eine verdammte Zehntelsekunde.« Alles klatschte, alles schrie, alles trampelte und pfiff, das ganze Gebäude vibrierte, und vor Schreck muss Lian einen winzigen Moment ihre Anspannung verloren haben, ihr rechter Fuß sackte auf das Seil hinab, das augenblicklich riss, Lian wedelte hilflos mit den Armen, die Akrobaten klammerten sich von hinten an Großvater, Lian fiel und griff im letzten Augenblick Großvaters ausgestreckte Hand. Noch nie hatte er ein solches Gewicht gehalten, sofort riss es auch ihn hinunter, und er wäre hoffnungslos mit Dai gemeinsam zu Boden gefallen, hätten die Akrobaten ihn nicht mit all ihrer Kraft zurückgezogen. Lian baumelte unter ihm. »Sie sah nicht zu mir hoch, sie zappelte nicht, mit großem Bedacht löste sie nur Finger um Finger von meiner Hand«, und als sie hinabzurutschen begann, drehte er mit einer schnellen Bewegung seinen Arm, und ergriff nun seinerseits Lians Hand, seine Finger krallten sich so tief in das weiche Fleisch, dass die Haut an mehreren Stellen aufriss, und das Blut an seinen Fingerkuppen war »angenehm kühl«.
    In Großvaters ganzem Körper krachte es, Sehnen und Muskeln schienen zu reißen. Lian schrie etwas, »Sie sagt, du sollst sie loslassen«, rief Hu von der anderen Seite herüber, seine Stimme überschlug sich dabei, und Großvater rief, er lasse sie nicht los, niemals. Die Akrobaten zogen an ihm, so fest sie konnten, aber dennoch rutschte er immer weiter über den Rand der Plattform hinaus. Lian schrie erneut zu ihm hinauf, »Sie sagt, du sollst sie endlich loslassen«, übersetzte Hu, »sie sterbe doch ohnehin.« »Ich doch auch«, rief Großvater zurück, sein gesamter Oberkörper hing jetzt schon in der Luft, der Schmerz in seinem Arm war längst nicht mehr auszuhalten. Lian schrie ihre Worte jetzt direkt in Hus Richtung. »Sie sagt«, übersetzte er, »du wolltest doch aber mal sehen, was sich da machen lässt.« Die Akrobaten hielten ihn jetzt nur noch an seinen Knöcheln, etwas riss laut im linken Arm. »Das nehme ich zurück«, rief Großvater, und Lian sah ihn mit großen Augen an. »Und dann wurden sie auf einmal kleiner«, erzählte Großvater, »immer kleiner, nur noch zwei schwarze Punkte.« Und Lians ganzer Körper wurde auch immer kleiner, mit rasender Geschwindigkeit entfernte sie sich von ihm, obwohl er sie immer noch festhielt, das war das Letzte, was er sah, bevor er in Ohnmacht fiel.
    »Zwei Tage später wachte ich im Krankenhaus wieder auf«, sagte Großvater und rieb sich den Stumpf seines linken Arms. Er sei natürlich sofort losgerannt, alle ärztlichen Warnungen ignorierend, aber im »Tamtam« habe er niemanden mehr angetroffen. Das ganze Gebäude sei verlassen gewesen, und nichts habe er dort mehr gefunden, keinen vergessenen Schminktiegel, kein langes schwarzes Haar, und schon gar keinenArm .
    Der Kellner räumte unsere unangerührten Teller ab. Dai saß mittlerweile fast auf Großvaters Schoß. »Ich geh jetzt ins Bett«, sagte er leise und stand auf. Dai folgte ihm, und als ich ein paar Minuten später auch nach oben ging, war mir klar, welches der Zimmer für mich bestimmt war.
    Es ist schon fast wieder hell, ich muss dringend ein paar Stunden schlafen, ein paar Tage, ein paar Wochen. Gute Nacht,
    K.

»Wie bitte?«, fragte die Pathologin. »Er ist es nicht«, sagte ich. »Ich kenne diesen Mann nicht.« Ich versuchte, das entschieden klingen zu lassen, legte auch ein wenig Erleichterung in die Stimme, ein wenig ungläubiges Staunen, sogar ein klein wenig gespieltes Bedauern, weil ich ihr nun ja leider

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