Diese eine Woche im November (German Edition)
1
T onio springt aus dem Schatten. Bernsteinaugen, kurzes Haar und gebräunte Haut, Tonio mit den muskulösen Armen und den langen Beinen ist zwischen den Clandestini unterwegs.
Clandestino heißt blinder Passagier und genauso benehmen sich die Touristen in Venedig. Blind sind sie für das, was rund um sie geschieht. Sie recken den Hals, starren eine romantische Kirche an und die von Luftverschmutzung zerfressenen Heiligenfiguren. Sie halten ihre Smartphones in die Luft und schicken das Bild ihren Freunden, damit auch jeder weiß, sie machen Urlaub in Venedig.
Tonio läuft den Leuten zwischen die Beine. Sie stolpern und schnauzen ihn an. Er bittet laut um Entschuldigung. Lärm ist bei seiner Arbeit wichtig.
» Scusi, Signora, ich bin ausgerutscht.« – » Sorry, Mister, ich habe ein kaputtes Bein. « Diesmal ruft er: » Au, Madame, Sie sind mir auf die Finger getreten. « Er streckt der fülligen Dame seine Hand entgegen. » Ein paar Cent, Madame, ich habe heute noch nichts gegessen. «
Seine Sprüche sind nicht neu. Ständig werden die Touristen in Venedig angebettelt. Sie reagieren genervt darauf. Kaum einer wirft Tonio ein paar Münzen hin. Doch auf Almosen ist er nicht angewiesen. Seine Beute fällt reicher aus. Denn inzwischen ist Pippa ins Spiel gekommen.
Jemand hat einmal gesagt, Pippa würde ihn an Audrey Hepburn erinnern. Auch wenn Pippa damals keine Ahnung hatte, wer Audrey Hepburn war, weiß sie mittlerweile, dieser Frau zu ähneln, ist etwas Wunderbares. Es bedeutet, fein und grazil zu sein, sanft wie ein Reh nach außen, in Wirklichkeit eine fauchende Katze, die immer auf den Füßen landet. Ein Mädchen, das für seine Freunde durchs Feuer geht. Auf den ersten Blick wirkt Pippa unscheinbar. Langes dunkles Haar fällt ihr ins Gesicht, sie trägt weite Sachen und Turnschuhe. Ihre Hände sind unglaublich flink, sie finden den Eingang in jede Tasche, ihre Finger erkennen auch den kompliziertesten Verschluss. Trägt ein Tourist den Rucksack, wo er hingehört, auf dem Rücken, hat er gegen Pippa keine Chance. Unbemerkt zippt sie den Reißverschluss auf und greift sich die Beute.
Die füllige Dame verwahrt ihre Dokumente vorsorglich in einem Beutel auf dem Busen. Wie ein Hauch fährt Pippas Hand unter das T-Shirt, ein Schnitt mit dem winzigen Messer, schon drückt das Beutelchen der Touristin nicht mehr auf die Brust.
Tonio setzt seine Show unterdessen fort. » Nur zehn Cents, Madame, damit ich mir was zu essen kaufen kann! «
Während sich die Bestohlene mit dem Jungen beschäftigt, schlüpft Pippa zwischen den Passanten durch, erreicht die nächste Brücke und verschwindet im Trubel. Die dicke Dame hat ein weiches Herz für Kinder, die betteln müssen, statt zur Schule zu gehen. Sie will Tonio ein paar Münzen geben, leider ausgerechnet aus dem Beutel, der ihr geklaut wurde. Jetzt muss auch Tonio die Beine in die Hand nehmen. Er lässt die Frau stehen und rennt die Calle San Zuane hinunter. Hinter sich hört er die Schreie der Madame. Touristen drehen sich um. Jemand greift nach ihm, jemand springt ihm in den Weg. Die Leute kapieren, hier haut ein Dieb ab. Tonio schlägt einen Haken in den Torbogen, der zur Calle Franchi führt, von dort ans Wasser, Wasser ist wichtig auf der Flucht, möglichst viel Wasser. Wo ein Fremder glaubt, es geht nicht weiter, ist Tonio plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Er kennt die Häuser, durch die man unbemerkt in eine andere Gasse wechselt, die privaten Bootsstege, von denen ein Sprung ihn ans andere Ufer bringt, die Gesimse, auf denen er entlangbalanciert, die geheimen Fährten durch die Eingeweide der Lagunenstadt. Für einen Verfolger, der kein Venezianer ist, wird die Verfolgung damit aussichtslos. In den Reiseführern heißt es, Venedig sei ein verwunschenes Paradies. Aber Venedig ist auch ein Labyrinth. Deshalb ist Venedig ein Paradies für Diebe.
Zwei Rucksäcke, eine lose übergehängte Jacke, eine Handtasche – Tonio und Pippa haben für diesen Abend genug gearbeitet.
» Nimmst du mich heute mit? « Sie händigt ihm den Beutel der dicken Dame aus.
» Geht nicht. « In einem Innenhof durchsucht Tonio die Rucksäcke. Außer Kreditkarten und Bargeld nimmt er nichts. Das Geld teilt er sich mit Pippa. Daran ist ihr Auftraggeber nicht interessiert.
» Rinaldo will mich kennenlernen, hast du gesagt. «
» Ein andermal vielleicht. « Tonio steht das Privileg zu, die Beute abzuliefern. Er ist eingeweiht, Pippa nicht. Nur er bekommt Rinaldo zu Gesicht.
»
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