Der Kaiser von China
wieder geschehen, das will ich Euch natürlich erzählen, auch wenn die Tage schon verschwimmen, auch wenn sie mir bereits wie Jahre vorkommen.
Heute morgen weckten mich laute Geräusche aus dem Nebenzimmer, ich machte den Fernseher an und stellte ihn auf volle Lautstärke, aber es half nichts, also ging ich schon einmal zum Frühstück. Erst gegen Mittag stießen Großvater und Dai dazu. Sie waren bestens gelaunt, Großvater umarmte mich sogar, Dai küsste mich auf die Wange. »Na, gut geschlafen?«, fragte ich, und Großvater überhörte alle Untertöne, sagte: »Bestens«, und dass er wahnsinnigen Hunger habe. Dai bestellte natürlich wieder viel zu viel. »Greif doch zu«, forderten sie mich immer wieder auf, aber ich schüttelte nur den Kopf, nahm mir eine Zigarette nach der anderen aus Dais Schachtel und versuchte, so wenig wie möglich zu husten, während sich Großvater und Dai gegenseitig irgendwelche Häppchen in den Mund schoben. üb wir nicht langsam mal los müssten, fragte ich, als mir das zu viel wurde. Wenn ich es richtig verstanden hätte, gebe es schließlich noch etwas zu erledigen, oder sei ihm das auf einmal nicht mehr so wichtig. Großvater tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Doch«, sagte er leise, natürlich sei es das, und mit dem Finger ordnete er ein paar Reiskörner am Rand seiner Schale. »Was ist, wenn Hu sich nicht mehr an mich erinnert?«, fragte er dann, und Dai nahm seine Hand. Das werde er ganz sicher, sagte sie, bei all dem, was damals passiert sei. Großvater nickte. »Ja«, sagte er, »hoffentlich ist es auch passiert.«
Vor der Herberge besorgte Dai uns ein neues Auto, einen Geländewagen, den würden wir brauchen. Ich setzte mich auf die breite Rückbank, gute zwei Meter trennten mich von den Vordersitzen, und so konnte ich wieder kaum verstehen, was die beiden vorne tuschelten, es war wohl ohnehin nicht für meine Ohren bestimmt. Alle paar Sekunden hörte ich sie lachen, manchmal sah ich, wie Dai im Spaß nach Großvater schlug, manchmal blieb ihre Hand auch länger auf seiner Seite, und ich sah dann besser aus dem Fenster.
Die Stadtmauer hatten wir rasch hinter uns gelassen und fuhren durch fast unbebaute Natur, links und rechts der staubigen Straße erstreckten sich Wälder, Hunderte von Kalksteinhügeln ragten aus den Baumgipfeln, in manchen von ihnen klafften riesige Höhlen. Ich hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen, das Grün war so saftig, dass es in den Augen stach, überall glitzerten Wasserfalle in der Sonne, am Straßenrand tollten Affen umher, und einmal musste Dai schlagartig bremsen, weil eine Horde Elefanten die Straße überquerte. Etwa zwanzig Tiere zogen gemächlich vorbei, ohne uns zu beachten, nur der Letzte blieb direkt vor dem Auto stehen, drehte sich zu uns um und blickte müde durch die Windschutzscheibe. Seine runzeligen Augen wanderten von Dai zu mir und schließlich zu Großvater, auf dem sie lange ruhen blieben, und plötzlich hob der Elefant den Rüssel, schwenkte ihn bedächtig hin und her und warf den Kopf zur Seite. Einige Minuten lang ging das so, keiner von uns wagte sich zu bewegen, dann ließ das Tier den Rüssel wieder sinken und trabte in den Wald.
»Was war das?«, fragte ich, und Dai sagte: »Sah aus wie eine Einladung.« Großvater saß immer noch reglos da und sagte kein Wort. Auch während der restlichen Fahrt blieb er stumm, ab und an warf Dai sorgenvolle Blicke zu ihm hinüber. »Er hat dich bestimmt mit jemandem verwechselt.«
Nach ein paar Stunden verließen wir die Straße und bogen auf einen kleinen Waldweg ab. Nun verstand ich, warum wir den Geländewagen benötigten. Wurzeln und Äste überwucherten die Fahrbahn, die nach einigen Metern ohnehin kaum noch auszumachen war, ich hatte keine Ahnung, wie es Dai gelang, sich hier zu orientieren, wir drangen immer tiefer in den Wald vor, doch irgendwann lichtete sich das Gehölz, und wir fanden uns auf einer Grasfläche wieder, in deren Mitte ein riesiges vierstöckiges Holzhaus stand. Dai schaltete den Motor ab. »Ich glaube nicht, dass wir hier richtig sind«, sagte Großvater und spähte skeptisch zu dem Haus hinüber. Dai antwortete nicht, ging mit schnellem Schritt vor zum Eingang, und ich schob Großvater hinterher. Auf einem Schild neben der Tür stand in einem guten Dutzend Sprachen »Heim für arbeitsunfähige Artisten ( ärztl . Nachweis erwünscht)«. »Bist du bereit?«, fragte ich Großvater. »Nein«, sagte er, atmete einmal tief aus, und
Weitere Kostenlose Bücher