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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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reicht. »Lass uns etwas essen«, schlug Dai vor, wir parkten das Auto und weckten mit vereinten Kräften Großvater. »Wo bin ich?«, fragte er und schaute sich verwirrt um. »Fast am Ziel«, sagte Dai , und Großvater schien sich nun zu erinnern, er lächelte, aber nur kurz, dann blickte er ängstlich zu Boden. »Am Ziel«, wiederholte er.
    In einem kleinen Lokal, dessen Wände bis zur Decke mit Autogrammkarten gepflastert waren, nahmen wir ein spätes Frühstück zu uns, Teigtaschen gefüllt mit einer süßen Ingwermasse, dazu überraschenderweise Hagebuttentee. Dai aß nichts, sie rauchte nur eine Zigarette, und ich war enttäuscht, dass sie das mit ihren Händen tat. Großvater besah sich die Menschen auf den Autogrammkarten. »Für mich sehen die alle gleich aus«, sagte er, und Dai meinte, das sei kein Wunder, es handele sich auch immer um dieselbe Person. Wer das denn sei, fragte ich, und Dai zuckte die Schultern. »Keine Ahnung«, sagte sie. Dann schaute sie auf die Uhr, drückte die Zigarette aus und sagte, dass wir uns langsam mal auf die Suche nach dem Artistenheim machen sollten. Ich nickte, nur Großvater schien es auf einmal überhaupt nicht mehr eilig zu haben. Ob er nicht mal mehr in Ruhe aufessen könne, fragte er und kaute die letzten Bissen mit einer für ihn vollkommen untypischen Langsamkeit.
    Fenghuangs Altstadt wird genau in der Mitte vom Tuo-Jiang-Fluss geteilt, links und rechts vom Ufer stehen die Häuser auf Stelzen, die mitunter so hoch sind, dass man die Eingangstüren nur mit einer Strickleiter erreichen kann. Durch die engen Gassen drängten sich chinesische Touristengruppen, alle paar Meter standen Souvenirstände, an denen meist kleine Phönixe aus Plastik angeboten wurden, daneben sah man alle Arten von Straßenkünstlern, Musikern, Jongleuren, Zauberern, Wahrsagern, Schwertschluckern und Artisten. Dai sprach jeden von ihnen an, und nach einer knappen Stunde kam sie strahlend zu uns zurück. »Ich habe es gefunden«, sagte sie. Es sei ein wenig außerhalb, aber wenn wir uns beeilten, könnten wir es heute noch schaffen. »Großartig«, sagte ich, und Großvater sagte es auch, er müsse vorher nur dringend ein paar Phönixe kaufen. Am Souvenirstand holte ich ihn ein.
    Was denn los mit ihm sei, fragte ich, und er betrachtete ausgiebig einen der roten Plastikvögel. »Vielleicht bin ich noch nicht bereit«, sagte er. »Bereit wofür?«, fragte ich. Großvater strich dem Phönix behutsam über den langen Schnabel. »Dass unsere Reise schon vorbei ist«, sagte er. Ich nahm ihm den Vogel aus der Hand und legte ihn zurück auf das Tischchen. Aber dafür sei er doch schließlich hierhergekommen , sagte ich. Großvater nickte. Ja, sagte er, aber das habe er ja vorher nicht wissen können.
    Dai hatte uns in der Zwischenzeit bereits ein neues Auto gemietet, diesmal war es ein japanischer Kleinwagen. Sie hupte und hielt die Beifahrertür auf. »Können wir?«, fragte sie. Ich schaute Großvater an, er blickte angestrengt zu Boden. »Vielleicht warten wir doch besser bis morgen«, sagte ich. Dai zögerte einen Moment, dann schaltete sie den Motor ab. »Du hast recht«, sagte sie. »Wir haben schließlich Zeit.«
    Wir schlenderten noch ein wenig durch Fenghuang , und auch wenn wir den fast allesamt verfallenen Tempeln und Pagoden, Stadttürmen und Brücken nur beiläufiges Interesse entgegenbrachten, so war es doch der schönste Tag unserer bisherigen Reise, auch wenn die Konkurrenz da nicht so groß war. Großvater wirkte nun wieder viel gelassener, wir nahmen Dai in die Mitte, sie hakte sich bei uns ein, und wir liefen am Ufer entlang. Die Abendsonne schien uns ins Gesicht, die Fischer auf dem Fluss winkten, wir winkten zurück.
    In einem kleinen Park spielte eine Kapelle, und Großvater forderte Dai zum Tanzen auf. Es war schön, ihnen zuzusehen, die Lieder wurden immer schneller, und die beiden drehten sich immer atemloser, immer öfter blitzten Dais goldene Schneidezähne auf, bis sie irgendwann einen durchgehenden Ring zu bilden schienen.
    Vollkommen außer Atem stießen sie wieder zu mir. »Du kannst froh sein, einen solchen Großvater zu haben«, sagte Dai , als wir den Park wieder verließen. »ja« , sagte ich, auch wenn ich nicht wusste, ob ich darüber wirklich froh sein konnte. Ich wollte es aber können, ich wollte nichts lieber können als das, allen anderen gelang es doch auch, es konnte doch nicht so schwer sein.
    Wir nahmen uns zwei Zimmer im » Hongqiao Bian Kezhan «, einer

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