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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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nicht selten mit einem Speichelfaden im Mundwinkel, stets richtete er sich, noch etwas benommen, zu einer einsamen Standing Ovation auf und rief so laut »Bravissimo«, dass ich schon einmal zur Garderobe vorging.
    Nach dem Theater sollte ich ihm dann immer eine Kneipe zeigen, eine »Szenekneipe«, wie er spezifizierte, doch da ich keine Ahnung hatte, was er sich darunter vorstellte, gingen wir immer in » Pete's Metal-Eck «, wo er sichtlich eingeschüchtert ein halbes Bier aus der Flasche trank und nach jedem Schluck lange das Etikett betrachtete. »Ich bin müde«, sagte ich irgendwann aus Mitleid, und er nickte erleichtert.
    Auf dem Heimweg wurde er dann doch noch sehr beschwingt. Wie schön so ein Abend nur mit uns beiden sei, sagte er, »Ja, Großvater«, dass man da endlich mal zum Reden komme, »Wie man's nimmt, Großvater«, dass ich doch mal wieder eines meiner Mädchen mit nach Hause bringen solle, »Da gibt es gerade kein Mädchen, Großvater«, dass ich ihn auch in solchen Dingen immer um Rat fragen könne, »Danke, Großvater«, dass er glaube, wir hätten, was Frauen angeht, in etwa den gleichen Geschmack, »Gut möglich, Großvater«. Wie gut das möglich war, konnten wir damals noch nicht ahnen. Erst ein paar Jahre später lernten wir Franziska kennen, die, bevor sie meine Geliebte wurde, meine letzte Großmutter gewesen war.
    »Und, wohin fahrt ihr?«, hatte mich Franziska gefragt, nachdem ich sie am Abend nach dem Geburtstag meines Großvaters überredet hatte, doch noch bei mir vorbeizukommen. »Jedenfalls nicht nach China«, sagte ich. »Da bleibt ja noch einiges übrig«, sagte sie, schaute auf ihr Handy, um die Uhrzeit zu überprüfen und suchte in der Tasche nach dem Autoschlüssel. »Ich muss los«, sagte sie dann viel zu früh, und an der Tür sagte ich noch »Fahr vorsichtig«, und meinte etwas anderes, und sie lächelte nur müde, und ich schloss die Haustür leise, und erst nachdem das Motorengeräusch längst nicht mehr zu hören war.
    In der Nacht zuvor war Franziska plötzlich aufgesprungen. »Was mache ich hier?«, hatte sie gesagt und sich hastig angezogen, und ich hatte mich verschlafen im Bett aufgerichtet, dass ich das auch gerne wüsste, sagte ich, sie solle sich besser schnell wieder hinlegen, und Franziska blickte mich zornig an. »Ich könnte deine Mutter sein«, rief sie und suchte ihre Stiefel, die sie vor einigen Stunden achtlos irgendwo hingeworfen hatte. »Das bist du aber nicht«, sagte ich. Weil ich mir in meiner Familie aber der wenigsten Dinge sicher sein konnte, fragte ich: »Oder etwa doch?«, und Franziska lachte auf. »Gott bewahre«, sagte sie, »auch wenn das die Sache kaum schlimmer machen würde.« Sie könne dieses Durcheinander gerade nicht gebrauchen, sagte sie noch. »Wirklich nicht«, sagte sie, dann hatte sie ihre Stiefel gefunden, zog sie mit beiden Händen bis zu den Knien hoch und sah mich an. » Willst du mich nicht aufhalten?«, fragte sie, und ich überlegte kurz, ob ich das wollte, ob ich dieses Durcheinander eigentlich gebrauchen konnte und ob ohne Franziska alles überhaupt weniger durcheinander wäre. »Doch, das will ich«, sagte ich schließlich, als Franziska bereits in der Tür stand, »Dann beeil dich«, sagte sie und lief aus dem Haus, und ich versuchte sie noch einzuholen, aber als ich die Straße erreichte, saß sie bereits im Auto. Nackt und fröstelnd stand ich auf dem kühlen Asphalt, Franziska ließ die Scheibe runter. »Schade, das war knapp«, sagte sie, und ich fragte mich, wie ich sie hätte aufhalten sollen, wie um Himmels willen ich mich jemals so beeilen könnte, wie Franziska sich das vorstellte, weil niemand so schnell war wie sie, immer wartete sie auf einen, immer drehte sie sich nach einem um, immer beendete sie die Sätze für einen, weil sie nicht nur schneller sprach, sondern auch schneller hörte als andere, sie hörte Dinge, die noch gar nicht gesagt worden waren, manchmal noch nicht einmal gedacht.
    »Was weiß ich«, antwortete sie auch jetzt, ohne dass ich etwas laut gesagt hätte, und ließ die Scheibe wieder hoch. »Mach mir doch einen Heiratsantrag«, sagte sie dann, lachte halbherzig und fuhr los, in ihrem gewohnten Tempo, die Reifen quietschten in der Kurve, das Geräusch kannte ich gut, genau wie das verzögerte Schalten auf der Querstraße, und als es dann ausklang, blieb ich trotzdem noch dort stehen, die Arme vor der Brust verkreuzt, als ob das vor irgendetwas schützen würde, und natürlich war ich

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