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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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ausreichend Anzeichen dafür gab, dass er sich, sobald wir außer Sichtweite waren, Brote schmierte oder sich unserer Reste annahm.
    Mein Großvater selbst war, entgegen seiner eigenen Behauptungen, kein großer Koch. Meist mäkelte er an den Gerichten herum, die unsere Großmütter oder wir zubereitet hatten, würzte, noch bevor er überhaupt probiert hatte, alles großzügig nach und erzählte dann das ganze Essen über davon, wie er uns bald einmal ein Geschnetzeltes oder einen Tafelspitz zubereiten werde, bei dem wir, wie er es formulierte, »mit den Ohren schlackern« würden. Dazu kam es selbstverständlich nie. Einmal gab er uns eine lange und penible Einkaufsliste mit, doch als wir vom Supermarkt zurückkamen, war er unauffindbar und blieb es, bis er sich am Abend kommentarlos an den fertig gedeckten Esstisch setzte.
    Wenn Besuch da war und das Essen lobte, sagte er schnell als Erster »Danke«, womit er, wenn man ihn später zur Rede stellte, angeblich für uns alle hatte sprechen wollen. Sonst aber war mein Großvater im Beisein anderer Menschen wie verwandelt. Er redete zwar immer noch viel, aber leiser als sonst, und oft hatte es mit dem gerade behandelten Thema zu tun, er stellte Fragen und wartete die Antworten ab, er lachte aufrichtig, auch über die Witze anderer, er erkundigte sich nicht scheinheilig, ob man »das etwa nicht mehr esse«, um dann mit der Gabel über den Tisch zu langen und sich von unseren Tellern zu bedienen. Man musste ihn sogar wohl oder übel charmant finden, zumindest, wenn es sich bei den Gästen um Frauen handelte, erst recht, wenn es sich um junge Frauen handelte, und ganz besonders bei jungen Frauen, die ich eingeladen hatte.
    Was mein Großvater doch für ein reizender Mann sei, musste ich mir oft genug anhören, wie unterhaltsam er doch sei, musste ich mir anhören, jung geblieben, aufmerksam und Gentleman musste ich mir anhören, mitunter sogar sexy.
    Wenn diese jungen Frauen wiederkamen, roch es schon nachmittags nach Großvaters Eau de Cologne, dann wechselte er oft noch mehrfach das Hemd, dann hatte er manchmal sogar kleine Aufmerksamkeiten besorgt, das Buch, für das die junge Frau beim letzten Mal aus Höflichkeit Interesse vorgetäuscht hatte, einen kleinen Porzellanelefanten, wenn sie erwähnt hatte, dass sie Tiere mochte, bei wiederholten Treffen manchmal sogar eine Brosche, die angeblich mit der Augenfarbe der jungen Frau harmonierte.
    Je öfter die jungen Frauen zu Besuch kamen, desto weniger Gelegenheiten ließ mein Großvater aus, mich vor ihnen lächerlich zu machen. Das fing mit harmlosen Kindergeschichten an, zog sich weiter zu unvorteilhaften Fotos aus der frühen Pubertät bis hin zu absonderlichen Lügengeschichten, dass ich noch immer »hin und wieder« ins Bett machen würde zum Beispiel oder dass ich als Kind auffallend häufig die Kleider meiner Schwestern getragen hätte. Es konnte passieren, dass bei romantisch geplanten Verabredungen im Kino oder Cafe auf einmal mein Großvater neben uns saß, scheinbar zufällig war er dazugestoßen , »Ich störe doch hoffentlich nicht«, was sich nur dadurch erklären ließ, dass er mir heimlich gefolgt war. Immer ausgeklügelter wurden meine Ablenkungsmanöver, immer unverständlicher flüsterte ich die Verabredungen ins Telefon, immer hektischer blickte ich mich bei den romantischen Treffen um, sodass es häufig die letzten Treffen blieben.
    Kein Wunder, dass ich irgendwann aufhörte, überhaupt noch Frauen mit nach Hause zu bringen, dass ich auch jede nähere Bekanntschaft mit ihnen verheimlichte, was aber nur dazu führte, dass mein Großvater glaubte, ich leide an Vereinsamung, und andauernd etwas mit mir unternehmen wollte. »Heute Abend gehen wir ins Theater, nur wir beide, wie früher.« So begeistert brachte er die Idee vor, dass er meine Ablehnungsversuche gar nicht zur Kenntnis nahm. »Du liebst doch das Theater«, sagte mein Großvater, auch wenn das ganz und gar nicht stimmte. Es war mein Großvater, der das Theater liebte oder zumindest behauptete, es zu lieben, mit lauter Stimme deklamierte er immer die einzige Stelle aus dem Faust, die er auswendig kannte, »Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern«. »Goethe«, rief er, »Goethe trank täglich fünf Liter Wein. Ein Genie«, und wenn ich dann abends neben ihm saß, im Kreidekreis, im Kirschgarten, auf Tauris , schlief er spätestens nach dem doppelten Pausensekt, »Trinkst du deinen noch?«, ein und schreckte erst zum Schlussapplaus wieder hoch,

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