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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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neue Aufgabe, die verkalkte Kaffeemaschine, das verhedderte Telefonkabel, Glückwunschkarten für noch längst nicht nahende Geburtstage, irgendetwas, von dem er behaupten konnte, dass es nun wirklich dringender sei.
    Und weil mein Großvater natürlich auch diese neuen Tätigkeiten nicht zu Ende führte und sich als Ausrede dafür noch neuere suchen musste, bestand das ganze Haus, das ganze Leben meines Großvaters aus Anfängen, überall stieß man auf aufgeschlagene Bücher, auf angebissene Brötchen, einzelne Schuhe, hörte Geschichten, die mitten im Satz, mitten im Wort abbrachen, immer noch standen die Namen fast aller vergangenen Großmütter auf unserem Briefkasten, und manchmal, wenn er angekündigt hatte, jetzt schlafen zu gehen, traf man ihn eine halbe Stunde später mitten im Flur stehend an. »Ich bin auf dem Weg«, sagte er dann schnell.
    Wo ich denn bleiben würde, fragte die Frau aus dem Krankenhaus auf meinem Anrufbeantworter. Ihre Stimme war angestrengt freundlich, im Hintergrund hörte ich etwas, das wie eine Säge klang, aber ich hoffte, mir das nur einzubilden. Sie selbst sei noch bis achtzehn Uhr da, sagte sie, der Nachtdienst wisse aber Bescheid. Und den Pass meines Großvaters sollte ich natürlich mitbringen, oder seinen Ausweis, die Geburtsurkunde, irgendein offizielles Dokument eben. Bevor sie auflegte, sagte sie noch: »Dann bis hoffentlich gleich«, das letzte Wort sang sie fast, als wären wir zu einem Abendessen verabredet, auf das sie sich schon lange freute.
    Von der Reiseauskunft erfuhr ich, dass die Fahrt in das westerwäldische Kaff achtzig Minuten dauern würde, einmal umsteigen, erst Regionalexpress, dann Regionalbahn. Gut zwei Wochen war mein Großvater unterwegs nach China gewesen, und nun war nicht einmal ein Zuschlag erforderlich. Die Züge fuhren alle zwei Stunden, auch danach hatte ich mich erkundigt. »Danke«, hatte ich gesagt, war wieder zurück unter den Schreibtisch gekrochen und hatte die Postkarten aus dem Stapel gesucht, die mein Großvater mir seit seiner Abreise geschrieben hatte. Ich fand elf davon, ohne zu wissen, ob das alle waren, ohne mich an ihre Reihenfolge zu erinnern. Ich suchte irgendeinen Hinweis, doch alles blieb unleserlich, nur einzelne Worte, Teilsätze, die mich in ihrer Zusammenhanglosigkeit ärgerten, »Styropor« ärgerte mich, »Vorspeisenteller« ärgerte mich, »aber wieder ein gutes Körpergefühl« ärgerte mich besonders, damit war nichts anzufangen, das interessierte mich alles nicht.
    Ich wusste nicht genau, nach was für einem Hinweis ich suchte, aber mein Großvater hatte doch wissen müssen, dass er es nicht bis nach China schaffen würde, dass er ohne Ausweis schon von Glück hätte sagen können, überhaupt Österreich zu erreichen, und ein Ausweis war ja bei ihm nicht gefunden worden, den hatte er wohl nicht für nötig erachtet. Ganz gleich wie stur er sich manchmal stellte, hatte er doch einfach wissen müssen, dass er auf diese Weise nicht weit kommen würde, und wenn es nicht der Westerwald geworden wäre, dann halt irgendein anderer Wald, irgendeine andere Kreisstadt, irgendetwas, das mit China beim besten Willen nicht verwechselt werden konnte, und China war dann ja irgendwann keine Frage mehr gewesen, auch wenn er davon nichts hatte hören wollen. »Natürlich fahren wir«, hatte er immer wieder gesagt, manchmal auch mehrfach hintereinander, manchmal so leise, dass es gar nicht an mich gerichtet sein konnte.
    Immer panischer flackerten in den letzten Jahren seine Augen, wenn man ihm widersprach, und immer schneller bekam dann sein Blick so etwas Kaltes und Starres, dass sich keiner von uns traute, ihn direkt anzusehen. Nie ist er wirklich gewalttätig geworden, nur selten ging Geschirr zu Bruch, meist schlang er seinen rechten Arm gleich mehrfach um den linken Ärmel, wohl um Schlimmeres zu vermeiden, und wir verließen so schnell es ging das Zimmer.
    »Großvaters Launen«, wie wir sie beschwichtigend nannten, waren stets gefolgt von langen Phasen des Schweigens, des Starrens, der Bewegungslosigkeit. Zusammengesunken saß er im Sessel und antwortete auf unsere vorsichtigen Fragen höchstens mit einem »Hm«, das man nur an der Tonlage als Ablehnung oder Zustimmung interpretieren konnte. Den gemeinsamen Mahlzeiten blieb er in diesen Tagen fern, und was als Reue ausgegeben wurde, sollte wohl vor allem unser Mitleid erregen. »Du musst doch mal was essen«, sagten wir dann auch bereitwillig und taten besorgt, obwohl es

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