Der Kalligraph Des Bischofs.
sonst verfolgt mich der
Büttel.« Mit einer Selbstverständlichkeit, die Gehorsam voraussetzte, stellte sich der Kleine vor die Stange.
Biterolf betrachtete die blonden, dünnen Haare des Jungen. Der Wind spielte mit ihnen, hob sie an, zauste durch sie hindurch.
Der Kleine wartete geduldig darauf, daß die Stange sich heben würde. Da spürte Biterolf, wie sich seine Armmuskeln anspannten.
Du mußt es mit einem Ruck tun, plötzlich, sonst verhindert es der Büttel.
Er stemmte die Lanze in die Höhe.
Unter ihr spazierte der kleine Blondschopf auf den Platz hinaus.
Der Büttel riß an seiner Lanze, schrie dem Jungen etwas hinterher, aber Biterolf hielt die Stange und mit ihr den Büttel unerbittlich
fest.
Es wurde still. Aller Augen blickten auf das Kind, das zum Bischof hinüberlief. Irgendwann ließ auch der Widerstand des Büttels
nach, und er drehte sich um, um zu sehen, was geschah. Zögerlich setzte sich der Legat auf seinen Thron.
Der Kleine schritt ohne Eile in die Mitte des Platzes. Durch die Löcher in seiner Hose blies der Wind, so daß sie ihm um die
dürren Beine flatterte. Die Haare wurden angehoben, hielten sich schräg, wirbelten auf und ab. Der Junge machte keine Anstalten,
schnell zu laufen. Ruhig ging er, bis er vor dem Bischof stand und zu ihm hinaufschauen konnte. »Guter Herr Bischof«, hörte
man ihn sagen, »wißt |411| Ihr, daß Ihr ganz schön tapfer seid? Vor all diesen bösen Leuten steht Ihr hier, und obwohl Ihr allein seid, steht Ihr aufrecht.
Bitte sprecht einen Segen für mich.«
Das ist nicht, was ich ihm in den Mund gelegt habe.
Bite rolf hob die Augenbrauen.
Was macht der Kleine da?
»Ich bin nicht allein, mein Junge.« Der Bischof ging auf ein Knie hinab und umfaßte den Kleinen. »Was brauchst du? Wofür soll
ich Gott bitten?«
»Ich bin den ganzen Tag auf der Straße. Gott möge mir Essen und Kleidung geben.«
Der Bischof schloß die Augen, dann wogte seine Stimme kraftvoll über den Platz. »Herr, dieser Junge bedarf deiner Fürsorge.
Gib ihm Speise, gib ihm Kleidung, und gib ihm das, was er am nötigsten braucht: die Wärme eines Hauses und Menschen, die ihm
gut gesinnt sind.«
Ein Raunen ging durch das Volk.
»Möchtest du zu mir an den Bischofshof ziehen? Ich habe gerade einen Notarslehrling – nein, einen meisterlichen Notar verloren.
Mein Schreiber Biterolf könnte jemanden wie dich gebrauchen.«
Der kleine Blondschopf nickte.
Sie blicken unschlüssig.
Biterolf lächelte.
Der Kleine hat die Lage gerettet. Wenn das Volk ruhig ist, wenn es vielleicht gar Vertrauen zum Bischof empfindet, wird sich
der Legat dann nicht entschließen, Claudius im Amt zu belassen?
Da durchschnitt die Stimme des Grafen die Stille. »Ich verfüge über eine Urkunde, die Claudius seiner Ketzertaten überführt.
Sie wurde von den Äbten Dructeramnus von Saint-Chaffre und Iustus von Charroux gesiegelt, ebenso vom edlen Grafen Suppo von
Brescia und von mir. Und« –
Godeochs Stimme bekam einen triumphierenden Klang – »vom Notar des Bischofs, Biterolf, der die Schriften und Aussagen seines
Herrn genauestens kennt.«
Biterolf sah, wie Claudius zusammenzuckte.
Er schaut mich nicht an. Er weiß doch genau, wo ich stehe. O Gott, wie muß das Claudius verletzen! Theodemir hat ihn verraten,
|412|
jetzt ich. Bitte, Allmächtiger, gib ihm Kraft, diese Augenblicke zu überstehen!
Ein Murmeln brandete über den Platz, als Godeoch eine Pergamentrolle zum Thron hinaufreichte. Der Legat entrollte sie und
las. Seine Miene verdüsterte sich zusehends, und immer entschlossener reckte er das bärtige Kinn vor. Er befühlte die Siegel,
die vom Pergament herabhingen. Dann verlas er die Klageschrift laut, so daß jeder ihn hören konnte. Zum Schluß sah er auf.
»Die Sache ist entschieden. Claudius ist ein Ketzer.«
»Einen Augenblick!« Zwischen dem Urteil des Legaten und Germunts Einwurf verstrich nicht der Moment eines Wimpernschlags.
Biterolf sah, wie sich Germunt auf der gegenüberliegenden Seite unter einer Lanze hindurchbückte und auf den Platz trat.
»Das ist ein Mörder«, schrie Godeoch. »Glaubt ihm nicht!«
Die rothaarigen Franken zogen ihre Schwerter zur Hälfte aus den Scheiden. Die Sonne blitzte auf den Klingen.
Unbeirrt lief Germunt auf den Legaten zu. »Was sagt Euch, daß Ihr nicht eine Fälschung in den Händen haltet?«
Der Legat lächelte. »Das ist einfach. Ich sehe Siegel, und drei der Verfasser sind anwesend: der ehrenwerte Suppo,
Weitere Kostenlose Bücher