Der Kalte
arbeiteten für ihn zehn Leute; es machte ihm nichts aus, dass eine davon etwas eigenwillig war. Rosa saß über den Rechnungen, packte Bücher aus, und alle ihre Gedanken verhielten sich wie disziplinierte Zuschauer eines stillen Geschehens. Sie blieben auf ihren Plätzen sitzen, jeder für sich ein eigenständiges Wesen mit klaren Rändern und etwas Raum zu den Nachbarn. Erst nach Verlassen des Geschäftes, bereits im Straßenverkehr, erhoben sie sich und begannen durcheinanderzulaufen, anzuecken, sich auch zu verklumpen; zusammengehörige liefen in entgegengesetzte Richtungen, unvereinbare klebten aneinander, und das quälte sie sehr. Mit den Jahren hatte sie sich allerdings Verfahrensweisen antrainiert, mit den Gedankenmassen zurande zu kommen, einmal besser, einmal weniger gut.
Ameisen nannte einst Edmund ihre Gedanken, und der Ameisenhaufen unter ihrer Schädeldecke sorgte für die stete und ewige Unruhe ihres Kopfes. Fünf Jahre nach Kriegsschluss hatte Fraul Rosa bei einer Veranstaltung der Auschwitzer erstmals getroffen. Sie war damals zum ersten Mal zu einer derartigen Zusammenkunft gegangen. Davor hatte sie sich aus allem herausgehalten, was sie an jene Zeit erinnerte. Sie hatte alle Angehörigen verloren, zuletzt ihre
Mutter, die vierzehn Tage nach der Befreiung verstorben war. Mit ihr war sie als zu Beginn Dreizehnjährige durch alle Lager zusammengeblieben.
Die Familie hatte in Strašnice, Südostmähren, gelebt. Vater Ignaz Rebenwurzel hatte die Bäckerei am Hauptplatz betrieben, die Mutter Gitta Goldlust hatte ihn neunzehnsechsundzwanzig geheiratet. Zwei Jahre später war Rosa gekommen, im Jahr danach waren die Zwillinge Viktor und Siegfried geboren worden.
Sie hatten es ganz gut im Strašnice der Dreißigerjahre. Die Wohnung in der Karlstraße war hell und groß, die Brüder von Ignaz leiteten die Malzfabrik und führten ein Gasthaus. Gittas Onkel machten in Tuch und kamen gut voran; zuletzt hatte Moritz Goldlust, der sich in Golz umbenennen ließ, zwei schöne Geschäfte in Brünn. Wohlhabenheit und Familiensinn, das war ihre Kindheit gewesen, so schien es ihr.
Alle wurden nach Theresienstadt verbracht und im Laufe der Zeit von dort nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Die Zwillinge fielen dem Doktor Mengele zum Opfer. Ignaz Rebenwurzel kam trotz seines Alters noch von der Rampe ins Lager, wurde dort binnen sechs Wochen zum Muselmann. Als solchen klaubten sie ihn eines Tages von der Lagerstraße auf, schmissen ihn auf den Lastwagen und bliesen ihn durch einen der Schornsteine. Gitta und Rosa überlebten Birkenau, sie gingen im starrkalten Jänner fünfundvierzig auf Transport nach Stutthof, durchlitten den Todesmarsch nach Tauentzien und wurden dort, zwei Skelette, aus einem Leichenhaufen herausgezogen, der Krieg war zu Ende. Nach Gittas Verlöschung schlug sich Rosa, etwas zu Kräften gekommen, mit ihrer Lagerfreundin Gusti Blum aus Wien nach dorthin durch. Hier blieb sie, was hätte sie in Strašnice anfangen sollen?
Mit Gusti, einer Jungkommunistin, begann sie eine Buchhandelslehre in einem kommunistischen Verlag in Wien. Gusti war eine sehr lustige Person; schon in Birkenau hatte sie im tiefsten Graus immer noch einen Scherz parat, mit breitem Mund lächelte sie dem Tod das Fahle aus dem Aug heraus. Einige Tage vor der Gesellenprüfung erhängte sie sich. Rosa entschloss sich nach diesem Ereignis, zu einer Veranstaltung der Auschwitz-Lagergemeinschaft zu gehen. Dort erzählte sie dem Edmund Fraul von Gusti Blum, und er nickte. Als sie im Schatten seines Kopfes sprach, wurde sie ruhig, fühlte sich so leicht, und plötzlich weinte sie auch etwas.
Sie heirateten und richteten sich ein. Sie hatten sich in Auschwitz nicht gesehen, das wussten sie, gleichwohl empfanden beide, dass sie schon seit damals zusammen waren.
Sillinger klopfte und öffnete die grüne Tür.
»Ihr Sohn ist da, Rosa.« Sie dankte und ging hinunter.
7.
Mutter und Sohn gingen den Graben entlang, sie mit den kleinen Trippelschritten, die aber in sich abgerundet und energisch den Boden beklopften, er mit langem, etwas geschlendertem Gang. Sie, die ihm bis zur Schulter reichte, hatte sich untergehakt, sie überquerten den Stephansplatz, bogen in die Wollzeile ein und betraten die Konditorei Heiner. Trotz der Mittagszeit war der rechte Raum halb leer, Karl steuerte auf einen bestimmten Tisch zu. Er bestellte sich Tomatenjuice und Rosa ihre Melange. Kaum hatten sie das Gewünschte serviert bekommen, begannen sie aufeinander
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