Der Kalte
Fraul seinen sechsundsechzigsten Geburtstag. Er saß im Wohnzimmer, seine Frau kochte. Während er auf seinen Sohn wartete, las er im Mahnruf, der Zeitung des KZ -Verbandes. Die Todesanzeigen studierend, rief er Namen zur Küche.
Rosa rief, wenn sie einen Namen trotz der Küchengeräusche verstand, »ich weiß« zurück.
2.
Karl erschien um sieben. Er übergab dem Vater sein Geschenk, setzte sich zu Tisch und betrachtete Frauls Gesicht, als der das Papier entfernte. Edmund schaute auf den Einband des Buches, ein Schauspielführer, lächelte schwach zu seinem Sohn hinüber, stand auf und legte es auf den Fernsehapparat. Rosa trug den Tafelspitz herein. So saßen die drei beisammen. Nach dem Essen tranken sie Cognac, und der Sohn verabschiedete sich.
Seit dieser Saison war Karl Fraul der angehende Jungstar des Burgtheaters. Er hatte einst das Reinhardtseminar absolviert, wurde hernach von Direktor Schönn ans Haus geholt. Dort ging er gelegentlich auf der Bühne hinten hin und her, indes sich einige Meter vor ihm die großen Szenen ereigneten. Es verdross ihn, von der Astrid von Gehlen bloß stets den Hintern zu sehen und vom alten Bonker, dieser Schauspielerlegende, die rötliche Glatze. Er begann sich in der Kantine entsprechend zu gerieren, betrat sie etwa mit dem Satz: »Herr von Posa, kann auch der Feldkurat sein, folgt mir auf dem Fuß«, verabschiedete sich mit »die Pferderln san gesattelt«. Während er seine Gspritzten trank, hielt er Lobreden auf eine geheimnisvolle, aber mächtige Statistengewerkschaft, die ihm so hohe Gagen erkämpft hatte fürs »Umananderstehn«, zitierte ständig den in Wien ohnehin bekannten Qualtingersketch vom vierten und siebten Zwerg und ging den andern Gauklern auf die Nerven.
»Hören Sie, Fraul«, schnarrte ihn gelegentlich Karl-Heinz
Bonker an, »Ehrgeiz ist ja in Ordnung, aber müssen Sie ihn unentwegt auf der Trompete blasen, noch dazu so dicht bei meinen Ohren?«
»Mit vollen Hosen ist leicht stinken«, antwortete ihm Karl unbekümmert, und in der Kantine lachten sie etwas.
»Ach wat«, murrte Bonker ins Gelächter hinein, »ick hab ooch of kleeneren Häusern zu gaukeln begonnen.«
»Mir fehlt wohl die Provinz?«
»Sie sagen es.« Karl Fraul stand auf.
»Der Fraul ist abgereist. Er ist per Zug nach Graz.« Er zahlte, ging und ließ sich, als sei es kein Scherz gewesen, nach Graz engagieren. Er erhielt große Rollen und hatte Erfolg. Also holte ihn Schönn nach zwei Jahren wieder ans Haus zurück.
Nun probte er den Malcolm, unter der Regie von Dietger Schönn selbst. Nun konnte er der Astrid von Gehlen ins Gesicht schauen, sie spielte die Lady Macbeth. Macbeth wurde von Felix Dauendin gegeben, dem großen Star, den sich Schönn ebenso wie Bonker und die Gehlen und noch einige andere aus Deutschland mitgenommen hatte.
Nachdem er den Geburtstagsbesuch hinter sich gebracht hatte, erleichtert, wieder aus dem Haus zu sein, ging er ins Pick Up, stellte sich an die vordere Theke.
Ich sah ihm zu, wie er die Wodkas zwitscherte. Dabei blieb ich als Zuhörerin im Schatten des Lyrikers Paul Hirschfeld, der mir mit heftigen Armbewegungen und mit vom Alkohol aufgerauter Stimme zum dritten Mal erzählte, wie er in Hamburg beim Verlag mit seinen Gedichten angekommen war. Ich kanns diesem nervösen Mittvierziger nachfühlen, an dessen Buchveröffentlichung in Wien keiner mehr glaubte, der es selber nicht fassen kann. Wieder und wieder, als wäre er der einzige Überlebende einer
Schlacht, vergegenwärtigte er sich und uns allen dieses Standhalten.
»Eine Standhalterei, Judith«, sagte er, sei es gewesen, durch Jahrzehnte hindurch hätte er standgehalten. Alle Jobs habe er bloß nebenbei gemacht, das Studium nebenbei, von nichts, auch nicht vom Journalismus habe er sich assimilieren lassen. Poesie hätte er gemacht, sie gelebt, sie sei das Wichtigste, wichtiger als die Liebe, das Geld, die Macht, »ach was, ich habe standgehalten, und da bin ich.« Ich nickte ihm freundlich zu, ich wollte als Erste überhaupt knapp vor Erscheinen seines Buches ein Porträt über ihn machen. Er versprachs.
Roman Apolloner kam herein, Hirschfeld trat einen Schritt zurück, und Karl Fraul bekam mich zu sehen. Er löste sich von der Bar und ging zu mir her.
»Weißt du, was du bist, Zischka«, schrie er, »eine Schastrommel bist du!«
»So? Bin ich das?« Eigentlich wollte ich davonlaufen, sofort, denn plötzlich waren Dutzende Männeraugen auf mich gerichtet. Ich hielt mich, weil es gerade
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