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Der Kampf mit dem Dämon

Der Kampf mit dem Dämon

Titel: Der Kampf mit dem Dämon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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helfen, die heilkräftige Zone vonSt. Moritz, die Quellen von Baden-Baden oder Marienbad ihn begnaden. Einen Frühling lang ist es das Engadin, das er als sich wesensverwandt entdeckt mit seiner »stark ozonhaltigen Luft«, dann muß es wieder eine Südstadt sein, Nizza mit seiner »trockenen« Luft, dann wieder Venedig oder Genua. Bald strebt er den Wäldern zu, bald den Meeren, bald den Seen, bald den kleinen heiteren Städten »mit guter leichter Kost«. Weiß Gott, wie viele Tausende Kilometer Eisenbahn der fugitivus errans durchfahren hat, nur um diesen märchenhaften Ort zu finden, wo das Brennen und Ziehen seiner Nerven, dieses ewige Wachsein der Organe aufhörte. Allmählich destilliert er sich aus seinen Leidenserfahrungen eine eigne Art Gesundheitsgeographie, er durchforscht dickleibige geologische Werke um dieses Ortes willen, den er wie Aladins Ring sucht, um endlich die Herrschaft über seinen Leib und Frieden seiner Seele zu gewinnen. Keine Reise wäre ihm zu weit: Barcelona ist in seinen Plänen und das Hochgebirge von Mexico. Argentinien und sogar Japan wird erwogen. Die geographische Lage, die Diätetik des Klimas und der Kost werden allmählich seine private zweite Wissenschaft. Bei jedem Ort notiert er sich die Temperatur, den Luftdruck, mißt mit Hydroskop und Hydrostat die Niederschlagsmenge auf den Millimeter und den Feuchtigkeitsgehalt. Die gleiche Übertreiblichkeit in der Diät. Auch da ein ganzes Register, eine medizinische Tabulatur von Vorsichtigkeiten: der Tee muß eine bestimmte Marke haben und in bestimmter Stärke dosiert, um ihm bekömmlich zu sein; Fleischkost ist gefährlich; Gemüse müssen auf bestimmte Art zubereitet sein; allmählich kommt in dieses Medizinieren und Diagnostizieren ein kranker solipsistischer Zug, ein gespanntes, überspanntes Auf-sich-selber-Starren. Nichts hat Nietzsches Schmerz so schmerzhaft gemacht als diese ewige Vivisektion; wie immer leidet der Psychologe zwiefach stark als jeder andere, weil er sein Leiden verdoppelt erlebt, einmal in der Realität und noch einmal in der Selbstbetrachtung.
    Aber Nietzsche ist ein Genie der gewaltsamen Umwendungen; im Gegensatz zu Goethe, der Gefahren genial auszuweichen verstand, hat er eine ungeheuer verwegene Art, ihnen geradewegs auf den Leib zu gehen und den Stier bei den Hörnern zu fassen. Die Psychologie, das Geistige – ich versuchte es eben zu schildern – treibt den bloß Empfindlichen tief ins Leiden; aber gerade die Psychologie, gerade der Geist reißt ihnwieder in die Gesundheit zurück. Schon ist er nach zehn Jahren unaufhörlichen Gequältseins auf einem »Tiefpunkt der Vitalität«, schon meint man ihn zerrissen, zermürbt von seinen Nerven, einer verzweifelten Depression, einer pessimistischen Selbstaufgabe zur Beute. Da plötzlich gibt es in Nietzsches geistiger Haltung eine jener blitzartigen, wahrhaft inspirativen »Überwindungen«, eine jener Selbsterkennungen und Selbstrettungen, die seine geistige Geschichte so großartig dramatisch und aufregend machen. Mit einem Ruck reißt er die Krankheit, die ihm den Boden unterwühlt, plötzlich zu sich hinauf und drückt sie ans Herz: es ist das ein ganz geheimnisvoller (nicht auf den Tag bestimmbarer) Augenblick, eine jener blitzartigen Inspirationen inmitten seines Werkes, wo Nietzsche seine Krankheit für sich » entdeckt «, wo er im Staunen darüber, daß er noch immer, noch immer am Leben ist, im Staunen, daß in den tiefsten Depressionen ihm die Produktivität, statt zu erlahmen, nur gewachsen ist, proklamiert, daß diese Leiden, diese Entbehrung für ihn »zur Sache«, zur heiligen, ihm einzig heiligen Sache seines Lebens gehören. Und von diesem Augenblick an, wo sein Geist kein Mitleid mehr mit dem Körper hat, kein Mit-Leiden mit seinem Leiden, sieht er zum erstenmal sein Leben in einer neuen Perspektive, seine Krankheit in tieferem Sinn. Mit ausgebreiteten Armen nimmt er sie in sein Schicksal wissend hinein als ein Notwendiges, und da er als der fanatische »Fürsprecher des Lebens« alles an seiner Existenz liebt, so sagt er auch zu seinem Leiden jenes hymnische Ja Zarathustras, jenes jubelnde »Noch einmal! noch einmal in alle Ewigkeit!« Aus dem bloßen Anerkennen wird ein Erkennen, aus dem Erkennen eine Dankbarkeit. Denn aus dieser höheren Schau, die den Blick weghebt vom eigenen Leiden, entdeckt er (mit jener übertreiblichen Freude an der Magie des Extrems), daß er keiner Macht der Erde so sehr verbunden und verschuldet ist wie seiner

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