Ein verhängnisvolles Versprechen
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Das vermisste Mädchen – im Fernsehen hatten sie unaufhörlich darüber berichtet und immer wieder das schmerzhaft gewöhnliche Schüler-Portrait des verschwundenen Teenagers eingeblendet. Jeder kennt diese Fotos: im Hintergrund eine Regenbogenfahne, extrem glatte Haare, sehr verlegenes Lächeln. Danach ein schneller Schnitt zu den besorgten Eltern vor ihrem Haus, umgeben von Kameras und Mikrofonen – die Mutter weint leise vor sich hin, der Vater liest mit zitternden Lippen ein Statement vor. Dieses Mädchen – dieses vermisste Mädchen – war Edna Skylar gerade entgegengekommen.
Sie blieb wie angewurzelt stehen.
Ihr Mann Stanley ging noch zwei Schritte weiter, bis er merkte, dass seine Frau nicht mehr an seiner Seite war. Er drehte sich um. »Edna?«
Sie standen an der Ecke 21st Street und 8th Avenue in New York. An diesem Samstagvormittag waren nur wenige Autos auf den Straßen, dafür waren die Gehwege voller Menschen. Das vermisste Mädchen war Richtung Central Park gegangen.
Stanley stieß einen schwermütigen Seufzer aus. »Was ist?«
»Pst!«
Sie musste sich konzentrieren. Das High-School-Foto des Mädchens, das mit der Regenbogenfahne im Hintergrund … Edna schloss die Augen. Sie musste sich das Bild vergegenwärtigen. Und es dann mit dem Bild der Frau, die sie gerade gesehen hatte, vergleichen. Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeiten.
Das vermisste Mädchen auf dem Foto hatte lange, mattbraune Haare. Die Frau, die gerade an ihr vorbeigegangen war – Frau,
nicht Mädchen, denn sie sah älter aus, aber vielleicht war das Foto auch nicht ganz aktuell gewesen –, hatte rote, gewellte und kürzere Haare. Das Mädchen auf dem Foto trug keine Brille. Die Frau, die die 8th Avenue in Richtung Norden ging, trug ein modisches Gestell mit getönten, rechteckigen Gläsern. Kleidung wie Make-up waren – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks – erwachsener.
Das Studieren von Gesichtern war für Edna mehr als ein Hobby. Sie war 63 Jahre alt und eine der wenigen Ärztinnen ihrer Altersgruppe, die sich auf Genetik spezialisiert hatte. Gesichter waren ihr Leben. Auch außerhalb des Krankenhauses ließ die Arbeit sie nie ganz los. Dr. Edna Skylar studierte Gesichter – sie konnte nicht anders. Freunde und Familienmitglieder kannten ihren prüfenden Blick, Fremde und neue Bekannte hingegen empfanden ihn als irritierend.
Genau das hatte Edna also getan. Beim Spazierengehen hatte sie, wie so oft, die Sehenswürdigkeiten und das Geschehen um sich herum ignoriert und sich ganz ihrem Privatvergnügen hingegeben, die Gesichter der Passanten zu studieren: die Struktur der Wangenknochen, die Länge des Unterkiefers, den Augenabstand, die Lage der Ohren, die Kontur des Kinns und die Länge des Nasenrückens. Und genau deshalb hatte Edna das vermisste Mädchen erkannt – trotz neuer Frisur und Haarfarbe, trotz neuer Brille, trotz erwachsenem Make-up und entsprechender Kleidung.
»Da war ein Mann bei ihr.«
»Was?«
Edna hatte laut gedacht.
»Bei dem Mädchen.«
Stanley runzelte die Stirn. »Wovon redest du, Edna?«
Das Bild. Das schmerzhaft gewöhnliche Schüler-Portrait. Man hat es tausendmal gesehen. Sieht man es in einem Jahrbuch, geraten die Gefühle in Wallung. Man sieht zugleich in die Vergangenheit und in die Zukunft dieses Mädchens. Man spürt die Freude
der Jugend, den Schmerz des Erwachsenwerdens. Man erkennt die Möglichkeiten, die sich ihr eröffnen. Man wird von Wehmut und Nostalgie übermannt. Die Jahre ziehen wie im Flug vorbei, Ausbildung oder Universität, Hochzeit, Kinder und so weiter.
Wenn aber das gleiche Foto in den Abendnachrichten eingeblendet wird, ist es wie ein Stich ins Herz. Man sieht sich das Gesicht an, das zaghafte Lächeln, die matten Haare und die hängenden Schultern, und die Gedanken wandern an dunkle Orte, von denen sie sich besser fernhalten sollten.
Wie lange wurde Katie – das Mädchen im Fernsehen hatte Katie geheißen –, wie lange wurde sie schon vermisst?
Edna versuchte, sich zu erinnern. Gut einen Monat. Vielleicht sechs Wochen. Nur die Lokalnachrichten hatten darüber berichtet, und auch die nicht besonders lange – viele glaubten, sie wäre nur ausgerissen. Katie Rochester war ein paar Tage vor ihrem Verschwinden achtzehn geworden – damit galt sie als Erwachsene, was den Druck, sie ausfindig zu machen, erheblich minderte. Angeblich hatte es zu Hause Ärger gegeben, vor allem mit ihrem strengen Vater, der sie jetzt trotzdem im
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