Der Kannibalenclan
Vase mit künstlichen Rosen. Daneben stehen zahlreiche Bilder, die Bilder eines jungen Mädchens. Es lebt nicht mehr – es ist eines der drei letzten Opfer von Sascha Spesiwtsew. Ihre Mutter, Ludmilla Baraschkina, arbeitet auf einem ländlichen Geflügelhof. Wie es hier fast üblich ist, bekommt sie keinen geregelten Lohn für ihre Arbeit, erhält aber einen Ausgleich in Form von Naturalien, meistens Geflügelbeine. Sie selbst ist froh darüber: »Eine gute Suppe« gebe das wenigstens.
Langsam geht sie zu dem Tischchen, auf dem die Bilder ihrer Tochter stehen. Sie nimmt einen schweren, silbrig glänzenden Rahmen in die Hand und zeigt das eingespannte Bild. »Wir denken jeden Tag, sie muss doch wieder durch diese Tür hereinkommen… Sie fehlt uns sehr.« Eine Träne fällt auf das Glas, auf das Gesicht der dreizehnjährigen Zenja. Noch eine. Und immer wieder die Frage der Mutter: »Warum?«
Die Gerichtsmediziner haben zweifelsfrei festgestellt, dass es sich bei dem in der Badewanne der Wohnung aufgefundenen Torso um den von Zenja Baraschkina handelt. Dennoch konnten ihre Eltern sie lange Zeit nicht zu Grabe tragen – die Überreste wurden unter Verschluss gehalten. Alles deutete darauf hin, dass das Gericht noch nicht vollends von der Identität des Opfers überzeugt war oder aber den Kopf des Mädchens benötigte, um weitere Untersuchungen vorzunehmen. Dies war immerhin der einzige Kopf, den man von den Opfern gefunden hatte, sieht man von dem überlebenden Mädchen ab.
Der Vater von Zenja Baraschkina ist ein etwa fünfzigjähriger Mann. Er arbeitet in einer der maroden Fabriken der Stadt.
Auch er wartet seit Monaten auf seinen Lohn. Er sitzt mit seiner Frau auf dem kleinen Sofa im Wohnzimmer und weint.
Er weint über das Schicksal seiner Tochter – und darüber, wie die Behörden mit seiner Frau und ihm umgegangen sind.
Seine Frau erzählt: »Man sagte mir, was dieses Schwein mit meiner Tochter angestellt hat. Aber die Polizei tröstete uns damit, dass wir froh sein dürften, unsere Tochter wenigstens beerdigen zu können. Andere Familien mussten schon dankbar sein, wenn sie nur einige kleine, kaum identifizierbare Reste erhielten. Die Polizei übergab der örtlichen Verwaltung den Leichnam und den Kopf unserer Tochter. Sehen durften wir sie nicht mehr. Dann bereiteten wir alles für die Beerdigung vor, die musste aber in letzter Sekunde abgesagt werden… man hatte angeblich den falschen Kopf geschickt… als gäbe es so viele zur Auswahl. Der neue Beerdigungstermin wurde dann für den nächsten Tag angesetzt. Als die Zeremonie vorbei war, haben die Beamten noch gescherzt: »Gut, dass wir Ihnen nicht den falschen Körper gebracht haben, sonst hätten sie ihn wieder ausgraben müssen.«
Olga Kaisewa, das blonde, fröhliche Mädchen, wie sie ihre Freundinnen beschreiben, ist das einzige Opfer Saschas, das ihrem Peiniger fast entkommen wäre.
Eine Krankenschwester sagte nach ihrem Tod: »Im Grunde ist es gut für sie, dass sie es überstanden hat. Die Verletzungen, mit denen sie eingeliefert wurde, waren so schwerwiegend, dass ein normales Leben für sie nicht mehr in Frage gekommen wäre.«
Sie hatte die Horrorwohnung auf einer Tragbahre lebend verlassen, und doch musste sie auf Grund ihrer schweren Verletzungen siebzehn Stunden später sterben. Heute liegt sie in einem kleinem Dorf, in dem ihre Großeltern leben, begraben. Ein weißer Stein schmückt das kleine Grab. Die schlichte schwarze Tafel mit der Aufschrift ihres Namens gibt keinen Aufschluss darüber, was sie erleiden musste. Nur darüber, dass ihr Leben sehr, sehr kurz war.
In der »Straße der Pioniere« von Nowokusnezk sind die Wohnungen stets sehr gefragt – und doch steht eine seit Monaten leer. Es ist die Wohnung, in der die Familie Spesiwtsew wohnte. Die Eingangstür ist nicht versiegelt, und doch betritt keiner diese Räume. Zehn Monate nach der Verhaftung Saschas und seiner Familie herrscht immer noch ein infernalischer Leichengeruch.
Die direkte Nachbarin der Horrorwohnung, Swetlana M., weiß Folgendes zu berichten: »Einen neuen Mieter für diese Wohnung wird es wohl nie mehr geben. Was hat man schon alles versucht, sie billigst zu vermieten – aber nicht mal Plünderer wollen sie betreten. Wenn man wenigstens das Durcheinander beseitigen würde, das die Polizisten hinterlassen haben… und dann gehört die Wohnung getüncht!
Solange die Wände und Decken mit Blut verschmiert sind, geht da doch keiner freiwillig rein! Außer
Weitere Kostenlose Bücher