Der Kinderdieb
auf und entriss dem Elfen das Schwert. »Bist du verrückt?« Ulfger starrte ihn mit ungezügelter Wut an. »Hast du verdammt noch mal den Verstand verloren?« Er schlug dem Alten den Schwertknauf mitten ins Gesicht. Der Elf stolperte zurück, griff nach seiner Nase und setzte sich schmerzhaft auf den Hintern.
Peter starrte Ulfger wütend an. Goll hatte ihm beigebracht, dass es nur eine Möglichkeit gab, mit einem Wolf fertigzuwerden. Ein tiefes, tierhaftes Knurren drang aus Peters Kehle.
Ulfger wollte gerade wieder nach dem Elfen schlagen, als Peter sich heulend auf ihn stürzte. Er sprang dem größeren Jungen auf den Rücken und bohrte ihm brüllend und kreischend die Fingernägel ins Gesicht. Ulfger zerrte an Peters Arm und wirbelte herum in dem Versuch, den rasenden Jungen abzuschütteln. Peter biss Ulfger ins Ohr, und der schrie auf, als ihm das Blut über den Hals rann.
Peter knurrte und warf den Kopf hin und her, bis Ulfgers Ohr abriss.
Ulfger warf Peter ab. Der landete am Boden und war nach einer Rolle wieder auf den Beinen. Sein Blick war wild, sein Gesicht blutverschmiert, und seine Finger waren zu Klauen verkrümmt. Er war bereit für mehr.
»WAS IST HIER LOS?«
Die Dame stand am Hoftor, Tanngnost und Hiisi an ihrer Seite. Hinter ihnen folgten mehrere Tischgäste, die mit aufgerissenen Augen die beiden Jungen anstarrten: Ulfger, der sich die Hand an die Schläfe hielt und dem das Blut zwischen den Fingern hervorsickerte, und Peter im Lendenschurz, der noch immer Ulfgers Ohr zwischen den Zähnen hatte und dem das Blut über Kinn und Brust rann.
Peter spuckte das Ohr auf den Boden.
Ulfger starrte auf das Ohr, auf
sein
Ohr. »Wachen«, rief er kraftlos, und dann brüllte er aus voller Kehle:
»WACHEN!«
Er drängte sich an der Dame vorbei auf den Gang.
»WACHEN! WACHEN!«
Hiisi half dem alten Elfen auf die Füße.
»Drael«, rief die Dame und legte ihm den Arm um die Schultern. »Drael, du blutest ja.«
Der Elf griff nach seiner Nase, um die Blutung zu stillen. »Meine Dame, ich bin mir nicht sicher, was passiert ist. Die Jungen steckten in einer Rauferei. Ulfger stand kurz davor, den anderen zu töten – ihn zu
töten
.«
Die Dame sah zu Peter hinüber. »Mein armes Kind.« Sie ging zu ihm, wischte ihm mit ihrer Robe das Blut aus dem Gesicht und nahm ihn in die Arme. Als Peter ihre warme Umarmung spürte, fing er an zu weinen.
»Wir müssen ihn hier wegbringen«, sagte Hiisi. »Ulfger wird ihn töten lassen.«
Die Dame antwortete nicht, sondern hielt Peter einfach nur fest an sich gedrückt. Hiisi warf Tanngnost einen besorgten Blick zu.
»Ich kann ihn mitnehmen«, sagte Tanngnost. »Aber wir müssen uns beeilen.«
In der Ferne hörten sie die Rufe der Wachen.
»Geht hinten raus«, sagte Hiisi. »Durch die Gärten. Ich kann die Wachen aufhalten. Meine Dame, du musst ihn jetzt loslassen.« Hiisi und Tanngnost lösten Peter behutsam aus den Armen der Dame.
Die Dame schüttelte den Kopf. »Nein, ich will, dass er hier bei mir bleibt. Er gehört hierher, er gehört
mir
.«
»Er ist in guten Händen«, sagte Hiisi. »Peter, geh mit Tanngnost. Er ist ein griesgrämiger alter Ziegenbock, aber er hat ein gutes Herz.«
Die Dame umfasste Peters Hände. Er sah Tränen in ihren Augen. Sie umarmte ihn ein letztes Mal, und Peter atmete tief ein, fest entschlossen, ihren süßen Duft nie zu vergessen. Dann ging der Troll mit ihm fort, in die Nacht.
Die farbenfrohen alten Erinnerungen verpufften und wurden vom endlosen Grau, von Schlamm und Verfall ersetzt. Peter versuchte, sich den süßen Duft der Dame zu vergegenwärtigen, doch es gelang ihm nicht.
Er erhob sich, machte sich auf den Weg nach Norden, Richtung Hexensumpf, und ließ Avallachs Kopf zurück, der nun auf ewig am Boden lauschen würde. Während er den Pfad durch die verbrannten Überreste des Apfelhains hinabwanderte, wagte er es, von einer Zeit zu träumen, als die Fleischfresser – diese verdrehten, mörderischen Dämonen – endlich aus diesem Land vertrieben sein würden. Dann konnten die Apfelbäume zurückkehren, die Hügel würden wieder ergrünen, die Wälder würden einmal mehr vom Lied der wilden Feen erfüllt, und er würde wieder neben der Dame sitzen.
Er beschloss, den dunklen Wassern des Cusithbachs zu folgen, die am westlichen Rand des Sumpfes entlangflossen. Sokonnte er einen Abstecher bei Tanngnosts Hütte machen. Falls es Neuigkeiten gab, würde Tanngnost Bescheid wissen – der alte Troll war ungeschlagen darin,
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