Der Kindersammler
Kaffee wärmen. »Darum hat er seit so vielen Jahren in Deutschland nicht mehr gemordet. Weil er hier in Italien weitergemacht hat. Weil er sich hier in den Bergen verborgen und den großen Künstler und Einsiedler gespielt hat. Hier war er völlig unbehelligt, bis er einen gewaltigen Fehler gemacht hat.«
»Welchen?«
»Er hätte niemals das Haus, in dem er gemordet und die Leiche vergraben hat, an die Mutter des Opfers verkaufen dürfen.«
»Warum Jan? Warum Jan auch noch?« Bettina stand auf und fiel Mareike um den Hals. »Halt mich fest«, flüsterte sie. »Ich halte das alles nicht länger aus.«
»Noch haben wir nicht verloren«, murmelte Mareike und hielt ihre Freundin sekundenlang umarmt, was beiden wie eine Ewigkeit vorkam.
Ein Handy klingelte. Bettina und Mareike zuckten gleichzeitig zusammen. Edda nahm das Gespräch an. »Nein, Mike «, sagte sie, »wir können jetzt nicht telefonieren, die Leitung muss frei bleiben, mein kleiner Bruder ist verschwunden, und die Polizei sucht ihn. — Ja, ich meld mich sofort bei dir, wenn sie ihn gefunden haben und wenn wir wieder reden können. — Na klar. — Bis dann. Tschüss.«
Sie knipste das Gespräch weg und legte das Handy zurück auf den Tisch.
Mareike setzt sich zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. »Hoffentlich kannst du bald wieder mit Mike telefonieren«, sagte sie.
Um neun kamen Anne, Harald und Kai nach La Pecora. Sie hielten es in Valle Coronata nicht aus, da sie dort telefonisch nicht erreichbar und von allem, was geschah, völlig abgeschnitten waren.
Eleonore nahm zwei Herztabletten und übernahm es, die ganze Gruppe der Wartenden mit frischem, heißen Kaffee und aufgebackenen Wurst- und Käse-Panini zu versorgen. Das Verschwinden Jans und die mittlerweile fast hundertprozentige Gewissheit, dass der nette und immer hilfsbereite Enrico ein vielfacher Kindermörder war, gingen über ihre Kräfte und verursachten ihr Herzrasen.
Anne war sehr schweigsam, aber sie machte einen ruhigen und gefassten Eindruck. Die Ungewissheit hatte ein Ende. Ihr Sohn war tot, er hatte schrecklich gelitten, aber das war vorbei. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr helfen, sie wünschte sich für ihn nur noch ein würdiges Grab, wo sie bei ihm sein konnte. Allein und ungestört. Dort würde er in ihren Gedanken weiterleben, und sie würde ihn vor sich sehen, wie er bis zu jenem Karfreitag 1999 gewesen war.
Harald konnte kaum stillsitzen. Er, der den hippokratischen Eid zur Maxime seines Handelns gemacht hatte, war die ganze Nacht von seinen Gewaltfantasien beherrscht worden. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, einen anderen zu töten. Die Konsequenzen waren ihm egal. Wenn er Enrico zu fassen bekäme, würde er es tun.
Die Sonne stieg höher, fast die gesamte Terrasse lag jetzt in der Sonne, der Tag schien wieder so warm zu werden wie ein Hochsommertag in Hamburg.
Es war elf Uhr dreiundzwanzig, als Mareikes Handy klingelte. Der Maresciallo war am Apparat. Mareike gab das Handy wortlos an Kai weiter. Sie hatte Angst, irgendetwas falsch oder überhaupt nicht zu verstehen, was der Maresciallo ihr zu sagen hatte. Zusätzlich spürte sie, wie ihr Magen sich vor Angst zusammenkrampfte.
Sie war nicht in der Lage, die Nachricht — welche auch immer — entgegenzunehmen.
Kai hörte zu. Ab und zu, sagte er »va bene« oder »subito« und »sicuro«, aber meist atmete er nur, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und nickte stumm ins Telefon. Keiner der Übrigen bewegte sich. Die Zeit stand still. Selbst der Wind wehte nicht mehr. Für einen Moment hörte die Welt auf, sich zu drehen.
Als Kai das Handy endlich ausschaltete und Mareike und Bettina ansah, waren seine Augen gerötet, als hätte er drei durchsoffene Nächte hinter sich.
»Sie haben sie gefunden«, sagte er leise. »In einem unbewohnten Haus, das seit Jahren leer steht. Nicht weit von Valle Coronata.«
»Und Jan? Lebt er?« Bettina erstickte fast an diesen wenigen Worten.
»Ja, er lebt.« Kai nickte. »Aber es geht ihm sehr, sehr schlecht. Noch liegt er im Koma. Es ist nicht sicher, ob er durchkommt. Die Ambulanza ist mit ihm gerade auf dem Weg nach Montevarchi.«
Edda schlug die Hände vors Gesicht und begann laut zu schluchzen.
»Ich fahr euch hin«, sagte Eleonore und stand auf. Bettina und Edda rannten zum Auto, Mareike humpelte mit ihren Krücken so schnell es ging hinterher.
»Wo ist das Schwein?«, fragte Harald.
Kai zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, dass sie ihn ins
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