Der Kindersammler
Herz schlug jetzt langsamer. Aber sie war hellwach, konzentrierte all ihre Sinne auf die stille M ü hle. Doch da war nichts mehr. Kein Laut. Kein Ton. Fenster und T ü ren blieben geschlossen, der Mann kam nicht mehr aus dem Haus.
Das K ä uzchen schrie. So wie das K ä uzchen in der Nacht geschrien hatte, als die alte Giulietta gestorben war. Ihre geliebte Nonna.
Allora wusste am n ä chsten Morgen nicht, ob sie die ganze Nacht so gesessen und gewacht oder ob sie geschlafen hatte.
Im Morgengrauen h ö rte sie, wie die h ö lzerne K ü chent ü r in den Angeln quietschte. Die Sonne kam gerade mit den ersten Strahlen ü ber die Bergkuppe, als der Mann aus dem Haus trat. In seinen Armen trug er einen leblosen Jungen, genau so, wie sie ihre Nonna getragen hatte. Der Kopf des Jungen hing weit nach hinten gekippt ü ber dem linken Unterarm des Mannes, der Mund stand offen. Seine blonden Haare bewegten sich leise im Wind. Den rechten Unterarm hatte der Mahn unter den Knien des toten Kindes, die Beine baumelten schlaff hin und her, als er mit ihm zum ausgetrockneten Teich ging und es behutsam hineinlegte.
Wenig sp ä ter begann die Betonmischmaschine mit ohrenbet ä ubendem Krach zu rotieren, sodass Allora die Flucht ergriff. Der Mann, den sie von nun an nie wieder Engel nannte, hatte sie nicht bemerkt.
Alloras Glieder waren steif und kalt, ihr Atem ging flach, sie musste so viel denken, dass ihr das Laufen schwer fiel. Sie brauchte drei Stunden bis nach San Vincenti. Niemand fragte sie, wo sie in der Nacht gewesen war.
Sie ging in ihr Zimmer und kroch in ihr Bett, ohne sich die Erde von den Armen und Beinen zu waschen. Sie zog sich die Decke ü ber die Ohren und versuchte zu verstehen, was sie gesehen hatte, aber es gelang ihr nicht.
ALFRED
Berlin/Neuk ö lln, November 1986
Er war nicht auf der Jagd und hatte nicht vor, sich an diesem nebligen und ungew ö hnlich kalten Novembertag sein n ä chstes Opfer zu suchen. Es passierte einfach, auch f ü r ihn v ö llig unerwartet. Vielleicht war es schicksalhafte F ü gung oder einfach nur ein dummer Zufall, dass er an diesem Morgen verschlafen hatte und anderthalb Stunden sp ä ter aus dem Haus ging als gew ö hnlich.
Ein eisiger Wind fegte durch die Stra ß en, und es nieselte leicht. Alfred fr ö stelte und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Handschuhe, Schal oder M ü tze hatte er nie dabei. Kleidung empfand er als Belastung, den schlichten grauen Pullover und die dunkelblaue Cordhose trug er das ganze Jahr ü ber. Sie waren im Sommer zu dick und im Winter zu d ü nn und sch ü tzten ihn auch jetzt nicht vor dem kalten Wind, der ihm in die Mantel ä rmel fuhr.
Alfred lebte seit drei Jahren zur ü ckgezogen und vollkommen unerkannt im Berliner Kiez. Er hatte keine Freunde und vermied engere Kontakte, er lehnte Zerstreuung und Unterhaltung jeglicher Art ab, ging nie ins Kino oder Theater und hatte in seiner kargen Hinterhofwohnung auch keinen Fernseher.
Obwohl er erst Anfang drei ß ig war, zogen sich durch sein volles, leicht gewelltes Haar bereits die ersten grauen Str ä hnen, was seinem markanten Gesicht einen interessanten Ausdruck verlieh. Auf den ersten Blick war er ein gut aussehender, sympathischer Mann. Seine blassblauen, glasklaren Augen fixierten sein Gegen ü ber stets sanft und eindringlich und signalisierten gro ß es Interesse. In Wahrheit war eher das Gegenteil der Fall.
Nachdem er kurz ü berlegt hatte, bog er die n ä chste kleine Nebenstra ß e rechts ah, in Richtung Kanal. Es war wenig Betrieb um diese Zeit, die Kinder waren l ä ngst in der Schule, und wer nicht unbedingt musste, ging bei diesem Wetter nicht aus dem Haus. Eine D ö nerbude, eine Kneipe, ein B ä cker, mehr gab es nicht in dieser Stra ß e. Ein Friseur, ein Zeitungsladen und ein kleiner t ü rkischer Gem ü seladen hatten letztes Jahr Pleite gemacht, die L ä den waren nicht wieder vermietet worden. Einmal in der Woche kam die M ü llabfuhr, das war alles. Die alten Leute waren weggestorben, neue Familien zogen nicht hierher. Nicht in diese Gegend. Viele Wohnungen standen leer, eingeworfene Scheiben wurden nicht mehr erneuert, Tauben nisteten in verdreckten, heruntergekommenen Zimmern und Hausfluren.
In seinen Schl ä fen begann es dumpf zu pochen. Er wusste, dass dies der Vorbote einer Migr ä ne sein konnte. Gestern Abend hatte er am K ü chenfenster gesessen und stundenlang auf die ockergelbe, fleckige Fassade des Quergeb ä udes und eine graue Mauer gestarrt, die den
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