Der Kindersammler
dem Rücken lag. Sein Hals war überstreckt, der Mund leicht geöffnet, die Finger zu Krallen gekrümmt. Seine Lider flackerten, und er atmete flach.
Enrico spürte instinktiv, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, und überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Fliehen? Jan zurücklassen? Versuchen, mit Jan zu fliehen? Aber wohin? Wenn sie das Kind suchten, suchten sie überall. Da war er nirgendwo mehr sicher.
Sie kriegen mich nicht, dachte er und beruhigte sich selbst, sie haben mich all die anderen Male nicht erwischt, sie werden es auch diesmal nicht schaffen.
Plötzlich versteifte er sich und verharrte bewegungslos, um besser hören zu können. In der Ferne waren Stimmen zu hören, die langsam, sehr, sehr langsam näher kamen. Hunde bellten, und ab und zu ertönte ein kurzer Pfiff.
Enrico nickte und lächelte. Zum Fliehen war es jetzt eindeutig zu spät. Sie würden ihn erschießen, und wenn er etwas in diesem Leben auf alle Fälle selbst bestimmen wollte, dann war es sein eigener Tod. Wenn ihn kein völlig unvorhersehbarer Unfall erwischte, wollte er sich noch nicht einmal von einer tödlichen Krankheit die Entscheidung über den Zeitpunkt und die Art und Weise seines Sterbens aus der Hand nehmen lassen, und von wild gewordenen Carabinieri, die danach lechzten, einmal im Leben ihre Waffe zu benutzen, schon gar nicht. Und er würde ihnen auch Jan nicht überlassen. Jan, der jetzt ihm gehörte, wie all die andern bis zu ihrem Tod nur ihm ganz allein gehört hatten. Jan sollte nicht in einem Krankenhaus an Maschinen angeschlossen und gewaltsam ins Leben zurückgeholt werden, Jan sollte gehen. Vor seinen Augen. Vielleicht ein wenig schneller als die andern. Er würde ihm seinen Frieden schenken, er würde ihn erlösen.
Jan spürte nicht mehr, wie sich eine Hand beinahe zärtlich um seinen Hals legte und zudrückte. Und den Griff wieder lockerte, um erneut zuzudrücken. Er hatte keine Chance mehr, zum lieben Gott zu beten, nach seinen Müttern zu rufen oder seine Schwester wegen vieler kleiner Streitereien um Verzeihung zu bitten. Er konnte nicht weinen und keinen Widerstand leisten, er empfand keinen Schmerz und keine Angst. Er war vollkommen in der Gewalt seines Mörders.
96
Man könnte es beinah als Ironie des Schicksals bezeichnen, dass es Giancarlo war, der am Casa II Nido hinter einer Brombeerhecke das Loch im Mauerwerk als Erster entdeckte. Giancarlo gab den Kollegen ein Zeichen, sich zurückzuhalten, entsicherte seine Waffe und ließ den Hunden den Vortritt, die sofort ins dunkle Innere des Hauses sprangen.
Giancarlo zählte innerlich — einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig — und wollte gerade seine Waffe zurück in den Halfter schieben, als ein ohrenbetäubendes und herzzerreißendes Hundegeheul einsetzte, das schließlich in aufgeregtes Bellen überging.
Giancarlo zwängte sich, gefolgt von zwei Kollegen, durch den Mauerspalt. Sein Herz raste, er bekam kaum Luft. Im grellen Licht der Stablampen, die die Kollegen in der Hand hatten, hockte Enrico über einen kleinen Körper gebeugt und reagierte überhaupt nicht auf das, was um ihn herum geschah. Die Hunde saßen knurrend neben ihm, aber bellten nicht mehr. Ohne zu überlegen warf sich Giancarlo auf Enrico und riss ihn nach hinten. Dieser rollte weich über den Rücken ab und ließ sich sogar noch ein paarmal hin und her wippen, als wolle er die Polizisten damit provozieren. Dann ging alles sehr schnell. Mit geübtem Griff bekam Giancarlo Enricos Handgelenke zu fassen und ließ die Handschellen zuschnappen.
Einer der Polizeibeamten kümmerte sich um Jan. »Schnell, holt einen Arzt!«, schrie er. »Der Junge hat — glaub ich — noch einen ganz leichten Puls. Verdammt noch mal, er lebt noch!«
»Oh«, meinte Enrico leise, »das wollte ich nicht.« Und seine kühle Arroganz verwandelte sich in echte Bestürzung.
97
Bettina und Edda saßen bewegungslos wie zwei Gipsfiguren auf der Terrasse, als Mareike nach Hause kam. Mareike sagte nichts, und Bettina fragte nicht, denn in ihrem Gesicht stand geschrieben, dass sie Jan nicht gefunden hatten. Keine Nachricht, keine Spur. Enrico und Jan blieben unauffindbar.
Mareike setzte sich, und Bettina goss ihr mit zitternden Händen eine Tasse lauwarmen Kaffee ein.
»Im Moment können wir nichts tun«, sagte Mareike. »Gar nichts. Nur warten und hoffen, dass sie ihn finden. Dass sie ihn vielleicht noch lebend finden.« Sie umfasste die Tasse mit beiden Händen, als wolle sie sich an dem fast kalten
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