Der Kirschbluetenmord
Licht, und die Luft war geschwängert vom Rauch, der aus den Pfeifen der Gäste stieg. Wieder ging Sano ein Wagnis ein. Er betrat das Lokal und stellte sich an den Tresen, zwei Plätze von Kirschenesser entfernt. Sanos Nachbarn, beides pfeifenrauchende Hafenarbeiter, murmelten eine Begrüßung und wichen widerwillig ein Stück zur Seite, um ihm Platz zu machen.
»Was darf ich Euch bringen, Herr?« rief der Wirt Sano zu, ohne von seinem blitzenden Messer aufzublicken.
»Alles, was gut ist«, erwiderte Sano geistesabwesend. Den Kopf leicht zur Seite gedreht, lauschte er Kirschenessers Gespräch.
Der shunga- Händler hatte sein Bündel fallen lassen. Er rang die knochigen Hände und sagte seufzend: »Ja, ich weiß, daß es viel Geld ist und mehr, als wir vereinbart hatten.« Ausnahmsweise verzichtete er auf seine flapsigen Bemerkungen und die verschleierten Anschuldigungen; die Besorgnis hatte ihm offenbar seinen Witz und seine Schlagfertigkeit geraubt. »Aber ich brauche das Geld, und ich brauche es jetzt.«
Sein Gegenüber war nicht Fürst Niu, sondern ein grauhaariger, schäbig gekleideter, dicker Mann, der mit mürrischer, dumpfer Stimme antwortete. Sano mühte sich, den Fremden zu verstehen. War er ein Geldverleiher? Oder ein weiteres Erpressungsopfer Kirschenessers? Unglücklicherweise wandte sich in diesem Moment der Wirt an Sano.
»Tanzender Sushi«, rief er und schubste über den Schanktisch hinweg einen Teller zu Sano. »Der beste in der ganzen Stadt. Laßt es Euch schmecken.«
»Danke.« Mit den Stäbchen nahm Sano eine lebende Garnele auf, deren Beine sich noch bewegten, und aß sie. Er wünschte sich, der Wirt hätte den Mund gehalten; denn wegen der Unterbrechung hatte er die Antwort des dicken Mannes nicht mitbekommen.
»Kein Grund zur Sorge?« hörte er Kirschenesser schimpfen. »Ihr habt leicht reden. Ihr seid ja nicht auf der Flucht, weil Ihr um Euer Leben fürchten müßt!«
Sano aß die anderen Garnelen, ohne sich auf das Essen zu konzentrieren. Jetzt begriff er, was es mit Kirschenessers großem, sperrigem Bündel auf sich hatte, und mit seiner panischen Flucht, seiner Geldnot und der Suche nach dem Boot. Irgend etwas – oder irgend jemand – hatte ihm so große Angst eingejagt, daß er beschlossen hatte, Edo schleunigst zu verlassen. War es Fürst Niu? Vielleicht hatte Kirschenesser nicht das versprochene Geld von ihm bekommen, sondern eine Todesdrohung.
Murmel, murmel war alles, was Sano von der Antwort des Dicken verstehen konnte.
»Ich muß auf der Stelle verschwinden«, sagte Kirschenesser. »Also, wo ist das Geld, das Ihr mir schuldet?«
Der Wirt schubste zwei weitere Teller zu Sano hinüber und verkündete laut: »Thunfisch und Meerbrasse.«
Sano hob eine Hand und gab dem Wirt zu verstehen, daß er nichts mehr wünschte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Kirschenessers dicker Gesprächspartner einen Beutel unter seinem schäbigen Umhang hervorholte und ihn Kirschenesser reichte. Plötzlich erregten die Hände des Dicken Sanos Aufmerksamkeit, und er runzelte die Stirn. Die Hände waren zu weiß und zu schlank, als daß sie einem so fetten Mann gehören konnten. Außerdem kamen sie Sano bekannt vor. Vor seinem inneren Auge entstand plötzlich ein Bild dieser Hände, wie sie statt eines Geldbeutels einen Fächer hielten. Sano betrachtete den dicken Mann genauer – und erstarrte; seine Eßstäbchen verharrten auf halbem Wege zum Mund.
Die graue Perücke und die dick gepolsterte Kleidung veränderten wirkungsvoll das Alter und die Gestalt des Mannes. Auch sein Gesicht wirkte voller und derber; vermutlich hatte er sich Stoffetzen unter die Wangen gesteckt. Doch seine Hände konnte er nicht tarnen, und sie verrieten Sano die wahre Identität dieses Mannes.
Der Dicke war niemand anders als Kikunojō, der große Kabuki-Schauspieler – diesmal in der Kleidung eines Mannes und vermutlich unterwegs zu einem weiteren verschwiegenen Treffen.
Sano drehte den Kopf zur Seite, bevor Kikunojō ihn erkennen konnte. Er hatte den Schauspieler mehr oder weniger von seiner Liste der Verdächtigen gestrichen, doch das plötzliche Wiederauftauchen Kikunojōs warf neue Fragen auf. Der Schauspieler hatte offensichtlich gelogen, als er Sano gegenüber abgestritten hatte, Bestechungsgelder zu zahlen – und dies war vermutlich nicht seine einzige Lüge gewesen. Hatte Kikunojō seine verbotene Liebesaffäre tatsächlich mit einer verheirateten Frau gehabt? Oder war Yukiko seine Geliebte gewesen? War es
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