Der Klang der Sehnsucht - Roman
landete auf dem gelben Schal, den der Guruji ihm geschenkt hatte.
Er hatte einen Brief von Malti bekommen. Die Geburt ihres Babys stand bevor. Und er wollte sie besuchen, zumindest für eine Weile.
Rauch stieg von den Räucherstäbchen auf und zog hinaus in den gepflegten, traditionellen Garten. Er musste an sein Zimmer beim Guruji denken, wo der gleiche Duft alle Oberflächen überzog.
Ashwin hatte ihm gesagt, er würde sein Zimmer ständig für seine Rückkehr bereithalten, ganz gleich, wie lange er fortbleiben würde. Er erinnerte sich, wie groß und leer ihm dieser Raum am Anfang erschienen war. Inzwischen konnte er den Türsturz mit gebeugten Armen berühren.
Kalu lauschte dem Klang einer japanischen Flöte, während eine Kirschblüte und dann noch eine vom Himmel schwebte. Er dankte Gott für sein Glück.
*
Vimu Ba mied die Seite des Basars, an der sich die Schneiderwerkstatt befand. Anfangs war sie wütend und schockiert über die Frechheit dieses Mädchens gewesen, in Hastinapore zu bleiben. Trotz ihres dicken Bauchs hatte sie beschlossen, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Früher hätte man sie mit Steinwürfen aus der Stadt gejagt. Stattdessen hatte man sie sogar eine Weile wie eine lebende Göttin verehrt. Es wäre besser für alle gewesen, wenn sie bei ihren Eltern im Dorf geblieben wäre. Dann hätten die Leute den ganzen Vorfall vielleicht vergessen.
Ihr Sohn sprach davon fortzuziehen. Irgendwohin, wo niemand sie kannte. Deshalb suchte er nach einer Stelle in einer weit entfernten Stadt. Weit fort von den wenigen Freundinnen, die ihr noch geblieben waren. Fort von den Straßen, die sie kannte. Fort von ihrem Zuhause.
Im Laufe der Monate sprach Vimu Ba immer weniger mit ihrem Sohn. Es gab nichts zu sagen. Sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund, und ihr Magen zog sich in dem Maße zusammen, in dem Maltis Bauch wuchs. Sie wusste, dass das, was an jenem Tag geschehen war, für immer in ihr schwären würde.
Sie warf Malti vor, in ihr Leben getreten zu sein, es zunächst mit Freude erfüllt zu haben, um ihr dann alles zu nehmen und Schande über die Familie zu bringen. Doch mit der Zeit wurde sie immer ärgerlicher auf ihren Sohn.
Als sie ihre Hochzeitsarmreifen zum Juwelier brachte, um sie einschmelzen und Schmuck für das Baby, das bestimmt ihre Augen haben würde, daraus anfertigen zu lassen, bemerkten weder ihr Mann noch ihr Sohn etwas davon.
*
»Ziehst du dann wieder zum Guruji, Kalu?«, fragte Malti, die ihre Tochter im Arm hielt.
Kalu schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich muss vorher noch einmal nach London. Ich habe ein Konzert dort. Außerdem ist der Guruji im Moment nicht zu Hause. Er besucht sehr alte Freunde in Bombay.«
Bei diesem Gedanken lächelte Kalu.
Malti legte das Baby neben Kalu aufs Bett. Er reichte ihm einen Finger, um zu sehen, wie die winzige Hand ihn umschloss. Er konnte nicht beschreiben, was er empfunden hatte, als er das Kind zum ersten Mal gesehen hatte. Das kleine Mädchen, das sich beim Klang seiner Flöte beruhigte und lachte, wenn es ihn sah. Noch nie hatte er so etwas Winziges und Hilfloses gesehen.
Malti hatte recht gehabt, seine Hilfe abzulehnen. Sie wirkte jetzt erwachsener denn je. Ihr Kind hatte ihr Selbstvertrauen gegeben.
Kalu dachte an das Mädchen, das ihm die Geschichte von Dhruv-Tara erzählt hatte, und ihm wurde klar, dass sie jetzt beide ihren eigenen kleinen Stern hatten. Swapana würde das Beste bekommen, das er ihr geben konnte. Nicht nur, weil sie Maltis Tochter war oder weil Malti ihn wie Raja ihren Onkel nannte, sondern einfach nur, weil das Baby ihn liebte und brauchte.
Er hielt Swapanas winziges Händchen und dachte an die Menschen in seinem Leben – die, die ihn liebten, und die, die es bei
seiner Geburt gegeben haben musste. Dieses Kind würde behütet aufwachsen.
Malti sah den ernsten Ausdruck in Kalus Augen, als er anfing zu singen. Ein ruhiges, kleines Lied, das sie nie zuvor gehört hatte. Ein Lied voller Verheißung und Freude.
Kapitel 16
Er ging über die Brücke und blickte auf die Boote und die graue Strömung. Die Themse war sauberer als je zuvor in den letzten hundert Jahren. Anscheinend gab es sogar wieder Fische. Er hatte keine Ahnung, woher er das wusste. Er wusste nur, dass ihm alles egal war. Der Fluss, die Fische und er selbst.
Der Junge, der in Bombay aufgewachsen war, und der Jugendliche, der versucht hatte, die Welt, aus der er kam, zu vergessen. Beide waren sie an dem Tag verschwunden, als sie
Weitere Kostenlose Bücher