Der Klang der Sehnsucht - Roman
Kritiker gespielt. Martin hatte angerufen, um ihm zu gratulieren. Ebenso Ashwin und der Guruji. Er hatte die Liebe und den Stolz aus dem strengen Ton des Guruji herausgehört. Es war Ashwin, der ihn fragte, wann er nach Hause kommen würde. Er war schon sehr nahe daran gewesen,
hatte aber dann doch entschieden, noch nicht zurückzukehren. Allerdings fragte er sich heute, was ihn eigentlich davon abhielt.
Er rieb mit dem Daumen über das dunkle Rosenholz, und der würzige Duft nach feuchter Erde, den es so nur in Indien gab, stieg von der Flöte auf. Diese Flöte war dazu bestimmt, im Freien gespielt zu werden.
Sie erzählte von Sonne und Sommer, vom Geist des Flusses, vom Trubel des Drachenfests, wenn der Wind zahllose Drachen zum Tanzen brachte, von Tulsis warmem Lächeln, ihrem Verständnis und von der kleinen Hand von Maltis Töchterchen. Er spürte, wie die Kälte nachließ, und plötzlich wurde ihm klar, dass er den Raga Desh spielte – das Lied seiner Heimat, das tief in seiner Seele verwurzelt war.
Es bedeutete ihm alles. Es war das wahre Geschenk, das Kalu von seinem Lehrer erhalten hatte. Er erinnerte sich an die Pausen zwischen den Worten des Guruji an diesem Morgen, und während er sich ganz seinem Spiel überließ, erkannte er, dass der Guruji sich ebenso nach ihm sehnte wie er sich nach seinem Lehrer.
Er spielte für den Guruji, mit seinen wachen Augen und seiner scharfen Zunge, der auf seine Rückkehr wartete. Und der ihn liebte. Der Guruji war zu einem Vater geworden. Kalu spielte von seiner Sehnsucht und Zuneigung und erkannte jäh, dass das wahre Geschenk nicht die Flöte selbst war. Das Geschenk waren die Menschen, zu denen sie ihn geführt hatte und die er so sehr brauchte.
Der Mann mit den Bechern erhob sich von der Bank und begann zu tanzen. Er sah aus wie ein Vogel, der sich anschickte, fliegen zu lernen. Er hob die Arme, drehte sich, anfangs schwerfällig, dann schneller, noch schneller im Kreis, bevor er sich ganz langsam an einen warmen Ort zurückzog, an dem es Mangos gab, Rum, Coca-Cola und heißen Kaffee. Richtig heißen Kaffee.
Es war mitten in der Woche, und niemand fragte Kalu nach seinem Gewerbeschein. Niemand unterbrach ihn, man hörte ihm zu, und einige legten sogar Münzen vor ihn auf den Boden. Kalu beobachtete den Mann mit den Bechern, der so voller Freude und doch so allein war.
Kalus Musik verklang, er wandte sich dem Becher-Mann zu und umarmte ihn. Er achtete nicht auf den Geruch, den Schmutz und die Vernachlässigung, die dem Mann anhafteten, er sah nur seine leuchtenden Augen. Er wusste, dass er an diesem Tag ein Geschenk gegeben, aber auch eins erhalten hatte. Kalu nahm seinen gelben Schal ab, machte eine Verbeugung und überreichte ihn dem Mann zusammen mit dem Geld, das er eingenommen hatte.
Kalu brauchte es nicht. Er reiste nach Hause. Weiter auf seiner Flöte spielend, ging er auf die Brücke zu und ließ das Lachen des Becher-Manns hinter sich.
An die Leser
Zahlreiche Begriffe in diesem Roman entstammen dem Gujarati oder anderen indischen Sprachen. Sie sind in dem folgenden Glossar kurz erläutert.
Leitmotiv meiner Geschichte ist die klassische indische Musikform des Raga, der mit seinen beziehungsreichen Klängen stets einem bestimmten Gemütszustand entspricht. Mein Roman folgt dem Aufbau des Raga und gewinnt nach einer eher bedächtigen Einleitung – dem Alap – in seinem weiteren Verlauf immer stärker an Dynamik.
Mein besonderer Dank gilt meinem Vater Pratap Amin, der während meiner gesamten Arbeit die Schreibweise der Wörter aus dem Gujarati überprüft und gemeinsam mit mir das Glossar erstellt hat.
Glossar
Agarbati: Räucherstäbchen.
Alap: »Ouvertüre« des → Raga.
Antara: Zweiter Teil einer Raga-Komposition, die in der Regel aus vier Teilen besteht. Antara bringt das Thema in eine mittlere und höhere Lage.
Aré: Häufig gebrauchter Ausruf milden Erstaunens.
Arti: Hinduistische Opferzeremonie, bei der Butterlampen entzündet werden.
Baba: Hier ironisch »mein Herr«.
Babu: Respektvolle Anrede, »Chef«.
Bansuri: Indische Bambusflöte.
Barfi: Indische Süßigkeit aus eingekochter Milch, Mandeln und Zucker. Wegen seiner weißen Farbe »schneeig« genannt (Hindi barf : »Schnee«).
Ben: Schwester (Hindi behen ).
Beta: Sohn, Kind.
Beti: Tochter.
Bhagwan: Gott. »He, Bhagwan«, etwa: »Du lieber Gott«.
Bhai: »Älterer Bruder«. Auch Anrede für Männer, die älter sind, als der Sprecher oder die Sprecherin.
Bhel-puri: Würziges
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