Der Klang des Herzens
seine langen Beine von sich. Sie richtete ihren Blick wieder auf die Vettern und begann weiterzuspielen. Dabei versuchte sie, sich ganz auf die Musik zu konzentrieren, auf nichts anderes, nicht etwa darauf, was es bedeuten mochte, dass er doch gekommen war. Mir ist egal, was er ist, was er getan hat, als er ein anderer war, dachte sie. Ich bin einfach nur froh, dass er da ist. Sie machte die Augen zu und ließ sich in ihre Musik sinken. Sie hatte Angst, zu viel zu verraten, wenn sie sich nicht hinter den Noten versteckte.
Sie liebte den zweiten Satz, das An- und Abschwellen, die nachdenkliche Melodie. Erst, als sie sich dem dramatischen Höhepunkt näherte, wurde ihr klar, warum sie unbewusst dieses Musikstück gewählt hatte. Dieser Teil, dieser bittersüße Teil vor dem Ende des Satzes deutete auf eine neue Einsicht hin, auf die Erkenntnis, dass die Vergangenheit vorbei war, dass es kein Zurück mehr gab. Elgar selbst hatte gesagt, es sei »zu emotional«, aber auch, dass er es sehr mochte.
Sie schlug die Augen auf. Asad hatte den Kopf in den Nacken gelegt, und Henry wischte sich verstohlen eine Träne
ab. Sie verharrte auf den letzten Noten, wrang auch noch den letzten Tropfen heraus.
»Na bitte«, sagte sie und senkte ihre Geige, »was habe ich ge…«
In diesem Moment warf sich Kitty wie ein Geschoss auf sie und raubte ihr den Atem. Sie schlang einen Arm um ihre Mutter, mit der anderen Hand hielt sie ihr Handtuch fest. Sie schluchzte so verzweifelt, dass sie kaum sprechen konnte.
»Kitty!« Isabel wich ein wenig zurück, um ihre Tochter ansehen zu können. »Was ist denn los?«
»Er … Es ist Matt McCarthy.« Kitty presste die Worte mühsam hervor. »Er ist drinnen im Haus.«
»Was?« Byron sprang auf.
Isabel warf einen Blick zum Haus. Dann wurde ihr klar, dass ihre Tochter außer dem Handtuch nichts anhatte.
»Hat er dich angefasst?«
»Nein«, schluchzte Kitty. »Er ist … er war im großen Schlafzimmer … und dann ist er durch das Loch gekommen … Er macht mir Angst.«
Isabels Gedanken rasten. Sie schaute zu Byron. Ihre Blicke trafen sich.
»Er ist so komisch. Ich konnte ihn nicht dazu bringen zu gehen.« Kitty klammerte sich immer noch an ihre Mutter.
»Was können wir tun?« Asad tauchte an ihrer Seite auf.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Isabel.
»Was hat er jetzt schon wieder vor?« Byrons Gesicht hatte sich verhärtet, sein Körper angespannt. Isabel bekam Angst. Nicht vor dem, was er getan hatte, sondern davor, was er vielleicht in ihrem Namen würde tun können.
»Er sagt, er will das Haus in Ordnung bringen«, sagte Kitty. »Das Loch zumachen. Aber er ist so komisch. Er ist nicht normal, Mum. Irgendwie …«
»Thierry«, unterbrach Byron, und schon rannte er übers Gras auf das Haus zu.
Oben im Bad wischte Matt mit einem Finger das Fensterglas ab und spähte auf die Versammelten herab. Er sah, wie Isabel kurz aufschaute, und war fast sicher, dass sie ihn gesehen hatte. Gut. Jetzt würde sie kommen.
Vielleicht konnten sie ja jetzt endlich reden.
Er merkte nicht, wie die gusseiserne Wanne immer voller wurde. Er hörte nicht das Knirschen des überlasteten Fußbodens.
Matt McCarthy stieg durchs Loch und wieder zurück ins Schlafzimmer. Langsam ging er zum Bett und setzte sich auf die Kante. Und dann …
Byron ging mit leisen Schritten nach oben, schaute dabei in jedes Zimmer, um zu sehen, ob der Junge vielleicht da drin war. Jahre auf der Pirsch hatten seinen Tritt leicht und lautlos gemacht. Auch die neu verlegte Holztreppe knarrte kaum.
Als er oben ankam, hörte er Wasser rauschen. Die Badezimmertür stand offen, und er konnte sehen, dass dort niemand drin war. Er stieß die Tür des großen Schlafzimmers auf.
Matt saß auf dem Bettrand und starrte auf das Loch. Als er Byron hörte, blickte er auf und blinzelte.
Es war klar, dass er jemand anderen erwartet hatte. Byron verharrte im Türstock. Und er wusste, dass Matt McCarthy ihn nicht mehr einschüchtern konnte. Er fürchtete sich vor nichts, das dieser Mann möglicherweise tun konnte.
»Wo ist Isabel?«, fragte Matt. Er war trotz seiner Bräune grau im Gesicht. Nur auf seinen Wangen brannten fiebrige rote Flecken.
»Du solltest jetzt gehen«, sagte Byron klar und deutlich. Aber das Blut pochte ihm so laut in den Ohren, dass er fürchtete, man würde es hören können.
»Wo ist Isabel?«, wiederholte Matt. »Sie wollte raufkommen und mit mir reden.«
»Du hast Kitty eine Todesangst eingejagt«, sagte
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