Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
Tage entfliehen zu können. Deshalb ließ ich es klingeln. Aber das Klingeln wollte nicht aufhören, und so nahm ich schließlich ab.
    «Es wird nichts aus Monaco», sagtest du heiser. Keine Begrüßung, keine Einleitung, als erstes dieser Satz. Dann Schweigen. Ich weiß noch: Der Magen tat mir weh, als hätte man Säure hineingegossen. Ich muß nach dem Text des Briefs gefragt haben, denn nun lasest du die wenigen Sätze vor. Veuillez accepter, Monsieur, nos sentiments très distingués . Mehrmals lasest du diese Formel vor, wiederum heiser, doch nun war der Heiserkeit etwas Rauhes beigemischt, eine rauhe Hilflosigkeit.
    «Wir werden darüber sprechen, morgen um diese Zeit bin ich ja bei dir», sagte ich.
    Schweigen.
    «Du willst doch trotzdem, daß ich komme?»
    «Es gibt nichts zu feiern», sagtest du.
    «Soll ich also nicht kommen?»
    «Es gibt nichts zu feiern.»
    Wäre ich doch trotzdem geflogen! Die Bitterkeit, ich hätte sie dir nicht nehmen können, gewiß nicht. Aber vielleicht hätte ich sie umlenken oder ihr eine andere Tönung geben können. Ich hätte dich daran erinnern können, daß du beim Anblick der Eisbahn im Rockefeller Center die Oper einfach vergessen hattest. Daß es außer der Oper noch ganz andere Dinge gab, Dinge wie eine Eisbahn mitten unter Wolkenkratzern, einen Ort, an dem man vor den Augen der anderen etwas tat, bei dem es nicht um Erfolg oder Mißerfolg ging, auch nicht um Sieg oder Niederlage wie beim Völkerball. Und an den Pazifischen Ozean hätte ich dich erinnern können, an die Geary Street und an Hawaii, wo wir mit plastic money jederzeit zusammen hinfliegen konnten, Opernwettbewerbe hin oder her. An lauter solche Dinge hätte ich dich erinnern können. Vielleicht hätte dich dann das rote Plakat später nicht aus der Bahn geworfen. Und Maman hätte nicht einen Mord zu begehen brauchen, den niemand wollte, weder sie noch du, einen unnötigen, willenlosen Mord an einem Mann, der zwar mit gezinkten Karten gespielt hatte, aber das war auch schon alles.

    Ich wünschte, Maman, wir beide hätten auch eine lange Reise gemacht. Als ich bei dir saß und in dein unwiderruflich stilles Gesicht blickte, in dem die Augen von Stunde zu Stunde tiefer in die Höhlen zu sinken schienen, suchte ich nach Erinnerungen, die ein ähnliches Gewicht hätten wie die Bilder von Papa in Amerika. Sie kamen nur langsam, und es waren wenige.
    Die eine ist eine Erinnerung an dein Lachen. Wir stehen zusammen beim Bärengraben in Bern. Du trägst den Pelzmantel. Ab und zu fahre ich mit der Hand über das glänzende Fell. Das ist ein Anlaß, dich zu berühren. Sonst nämlich gibt es das schon lange nicht mehr: Berührung und Zärtlichkeit. Ich nehme dir Patrice weg, das ist dein Vorwurf, soviel versteht das neunjährige Mädchen schon. Und es nimmt dir übel, daß du ihn ins Boudoir holst und er nachher sonderbar riecht. Darüber sind wir zu Gegnerinnen geworden, du und ich. Doch jetzt, beim Bärengraben, ist das nicht wichtig. Ob es auch Pelzmäntel aus Bärenfell gebe, frage ich. Am ehesten in Kanada und Rußland, sagst du. Es überrascht mich, daß du in dieser Weise über die Welt Bescheid weißt, das hätte ich dir nicht zugetraut, so kenne ich dich nicht, du bist immer so zerstreut und scheinst dich für die Welt nicht zu interessieren, denn warum sonst stehst du mitten in der Tagesschau auf. Es rührt dich, daß dir die kleine Tochter eine Frage stellt, in der du als Frau mit Wissen angesprochen wirst, sozusagen als Erwachsene, denn nicht selten kommt dir unsere Rücksichtnahme auf deine Zerstreutheit wie eine Entmündigung vor. Dankbar streichst du mir übers Haar. In einem gemeinsamen Blick sehen wir, wie ein junger Bär auf dem Bassinrand ausgleitet und ins Wasser fällt. Die Mutter hilft ihm heraus, und dann gibt sie ihm eine Ohrfeige. Schallendes Gelächter bei den Zuschauern. Zuerst machst du ein Gesicht, als würdest du gerne mitlachen, hättest aber vergessen, wie es geht. Und dann plötzlich gelingt es dir. Du bist glücklich darüber, und nun will dein Gesicht immer mehr davon, die anderen helfen dir mit weiteren Lachsalven, denn der kleine Bär zeigt sich zutiefst beleidigt und verzieht sich in die Ecke. Jetzt lachst du Tränen, ein bißchen finde ich es übertrieben, aber ich bin glücklich, dich lachen zu sehen, ich kann mich nicht erinnern, wann das letzte Mal war.«Komm, jetzt zeige ich dir, wo Kanada und Rußland liegen», sagst du, und auf dem Gang zum Geschäft mit den Weltkugeln hast

Weitere Kostenlose Bücher