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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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geflohene Tochter berührt man nicht. Dann standen wir draußen, um Worte verlegen.«Inzwischen sind alle vier Jahreszeiten ohne dich vorbeigegangen», sagtest du schließlich.
    Dieser erste Besuch fiel in eine Zeit, in der Maman besonders viel Morphium nahm. In dem einen Jahr hatte ich vergessen, wie groß ihre Zerstreutheit sein konnte. Sie verlor die Orientierung in der Zeit, als sie mich sah.«Habe ich dir schon gesagt, daß Silke Lazar ein Kind bekommt?»fragte sie. Dabei war es wenige Wochen vor unserer Flucht, daß sie von der Schwangerschaft der Putzfrau erfahren hatte. Das inzwischen verflossene Jahr war wie nicht gewesen. Jetzt gab es keine Putzfrau mehr. Du warst froh darüber, Papa. Dienstboten: Du konntest dich nie an die Idee gewöhnen, daß andere für dich arbeiteten.«Dann bleibt der Staub eben liegen», sagtest du. Er blieb liegen. Nicht bei jenem ersten Besuch, aber später konnte man ihn riechen. Überhaupt roch es im Haus jetzt anders: nach Verlassenheit und Verfall.
    Auch du mußt an jenem ersten Abend des Wiedersehens an Amerika gedacht haben, Papa. Denn plötzlich holtest du das Klassenfoto aus dem Heim hervor und zeigtest auf einen schmalen Jungen mit hellem Haar und großen Augen.«Das ist Reto», sagtest du.«Aber nicht im Profil», sagte ich. Du warst glücklich, daß ich mich an dieses Detail erinnerte, einen kurzen Augenblick lang war es nun auch zwischen uns so, als sei das vergangene Jahr nicht gewesen. Und dann erzähltest du von dem Tag, an dem du das verhaßte Heim verlassen und zu Pierre und Sophie ziehen durftest.
    «Am Vortag packte ich meine Sachen zusammen. Ich packte den ganzen Tag, scheint mir. Dabei war es erstaunlich wenig, was ich besaß. Es paßte alles bequem in den schäbigen Koffer, mit dem ich vier Jahre zuvor angekommen war. In der Nacht konnte ich nicht schlafen, aber das Schnarchen der anderen störte mich weniger als sonst: Es war das letzte Mal. Nach dem Frühstück war ich zu Gygax bestellt, zu Urs Gygax, dem Leiter. Ich war mit Absicht unpünktlich. Und ich donnerte mit der Faust gegen die Tür, statt untertänig anzuklopfen, wie es uns beigebracht worden war.
    ‹Was ist denn das für eine Art anzuklopfen!› schnauzte mich Gygax an.
    Ich sagte nichts. Stand einfach nur da, die Hände in den Hosentaschen, Kaugummi kauend. Was er beides nicht ausstehen konnte. Er hatte schon Atem geholt, um mich erneut zurechtzuweisen, da machte er eine abwinkende Bewegung voll von Überdruß und ließ es sein.
    ‹Es wird dir nicht allzusehr leid tun, uns zu verlassen›, sagte er.
    ‹Nicht allzusehr, nein›, gab ich zurück und biß auf den Kaugummi, daß es knallte.
    Er kam hinter dem Schreibtisch hervor.
    ‹Ein Kirchenlicht bist du ja nicht gerade.›
    Das hätte er nicht sagen sollen. Auch wenn es stimmte.
    ‹Ich höre, wenn die Töne falsch sind. Wie bei Ihnen. Herr Gyggaxx.›
    ‹Du unverschäm …›>
    ‹Ihre Töne sind alle falsch. Jeder einzelne. Immer. Auch wenn das Klavier frisch gestimmt ist.›
    Er war rot angelaufen.
    ‹Und nicht nur in der Musik›, fügte ich hinzu. Die Worte waren zu groß für mich, das spürte ich, sie kamen mir vor wie Worte, die mir eingegeben wurden, damit ich der Größe des Augenblicks entsprechen konnte. Und auch was ich anschließend tat, während Gygax nach Luft schnappte, war nicht von mir, ich hatte es aus einem Buch mit Geschichten, in denen der Rädelsführer einer Schülerbande lauter kühne Dinge tat: Ich nahm den Kaugummi aus dem Mund, klebte ihn auf die Ecke des Schreibtischs und drückte den Daumen hinein wie einen Stempel in Siegellack. Solange ich im Raum war, brachte Gygax, Urs Gygax, keinen Ton mehr hervor.
    Von Binggeli, Aschi Binggeli, habe ich mich auf tollkühne Art verabschiedet. Sie spielten Völkerball, als es für mich Zeit wurde zu gehen. Ich trat einfach ins Feld, in der linken Hand den Koffer. Völkerball einarmig spielen zu wollen ist gewagt, das kann ich dir sagen, mehr als gewagt. Reto mir gegenüber hatte den Ball. Die anderen, die noch übrig waren, räumten stillschweigend das Feld. Retos Wurf, das glaube ich bis auf den heutigen Tag, war eine noble Geste des Abschieds. Nicht daß es ein lahmer Wurf gewesen wäre. Aber er paßte haargenau in meine Armbeuge, so daß ich nur noch zuzumachen brauchte. Er lächelte, als ich fing. Er lächelte so, wie nur er lächeln konnte. Ich wünschte, er hätte mir dieses Lächeln öfter geschenkt. Ich lächelte zurück. Jedenfalls versuchte ich es. Ich hoffe, es

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