Der Klavierstimmer
wurde auch ein vornehmes Lächeln, nicht so vornehm wie seines, aber immerhin. Alle, die sie dastanden, sahen unser Lächeln, seines und meines. Jetzt wußten sie: Reto hatte mich angenommen.
Ich konnte nicht aus der Drehung heraus werfen, das ging mit dem Koffer nicht, und abstellen wollte ich ihn nicht, das hätte alles verdorben. Binggeli wußte: Wenn er diesen Ball nicht abfing, diesen Ball eines Kofferträgers, war er erledigt. ‹Also, Herr — Binggeli›, sagte ich und knallte den Ball ein paarmal auf den Asphalt. Die anderen hielten den Atem an. Außer dem Knallen des Balls und dem Echo von den Mauern her hörte man keinen Ton. Es gab zwei Möglichkeiten. Ich konnte den Ball richtig in die Hand nehmen, weit ausholen und ihn über den Kopf hinweg auf Binggeli hinunterschmettern. Oder ich setzte das knallende Aufschlagen noch eine Weile fort und schlug dann ganz unerwartet mit dem Handballen zu, ähnlich wie ein Volleyballspieler. Die Wucht des Balls wäre geringer, aber mit einem solchen Schlag würde Binggeli einfach nicht rechnen. Ich tat, als würde ich im ersten Sinne werfen, und brach mitten in der Bewegung ab, als traute ich mich noch nicht. Ein Raunen war zu hören. Die Spannung hatte den Siedepunkt erreicht. Wieder knallte ich den Ball auf den Asphalt. Und plötzlich dann schlug ich, für jeden völlig unerwartet, von der Seite zu und drückte den Ball dabei nach unten, so daß er auf Schienbeinhöhe ankäme, dort ist er am schwersten zu fangen. Binggeli war so überrascht, daß er gar keinen Versuch machte zu fangen. ‹Adieu, Binggeli›, sagte ich, nahm den Koffer in die andere Hand und verließ den Hof, ohne mich noch einmal umzudrehen. So, wie ich es aus dem Buch mit den Geschichten kannte.»
Von Reto hast du bei meinen späteren Besuchen nie mehr gesprochen, Papa. Überhaupt hast du kaum mehr von dir gesprochen. Du mußt die Lähmung gespürt haben, die mich befiel, sobald ich das Haus betreten hatte, das nicht mehr mein Zuhause war und in dem enttäuschte Stille und Verfall regierten.
Es war deshalb ein großes und befreiendes Ereignis, als du anriefst um zu sagen, daß du mit einer neuen Oper begonnen hattest. Deine Stimme hatte einen feierlichen Klang, als du den Titel nanntest: Michael Kohlhaas . In den vergangenen Jahren hatte ich gelernt, dein Schweigen am Telefon zu entziffern. Was auf die Nennung von Kleists Figur folgte, war ein stolzes Schweigen: Jetzt habe ich das Schwierigste in Angriff genommen, schien es zu sagen, und gleichzeitig dasjenige, was mir am nächsten ist. Oder: Jetzt habe ich mich selbst in Angriff genommen. Wir hatten die Novelle in der Schule lesen müssen, viel zu früh für mich. Sie war mir schwerfällig erschienen, und ihre Gewalttätigkeit verabscheute ich. Nun las ich sie noch einmal, dir zuliebe. Ich verstand sofort, warum es ein besonderer Stoff für dich war.
Und eines Nachts dann kam der Anruf, in dem du vom Preis erzähltest.
«Stell dir vor: ich. Kein anderer», sagtest du.«Monaco. Monte Carlo. Nach vierzehn Opern und sechsunddreißig Bewerbungen. Ich, Frédéric Delacroix. Kein anderer. Ich.»
Ich nahm frei und flog zu euch nach Berlin. Du hattest den Brief in der Hand und wartetest in der offenen Tür, als mein Taxi hielt. Einen Kuß wolltest du nicht, der Brief hätte dabei beschädigt werden können. Vor Aufregung stockend hast du ihn vorgelesen, und dann mußte ich ihn selbst lesen, mehr als einmal. Doch was ich vor allem vor mir sehe, wenn ich an diesen Besuch denke: wie du den kostbaren Brief glattstrichst, immer wieder, ohne Ende.
«Noch nichts», sagtest du, wenn ich in der nächsten Zeit anrief und fragte, was es aus Monaco Neues gebe. Jedesmal klang es ein bißchen verzagter. Im Frühjahr dann sagtest du auf die immer gleiche Frage:
«Es sind noch einige Nachforschungen nötig.»
«Was für Nachforschungen?»fragte ich.
«Nachforschungen eben», sagtest du.
Manchmal war es eine Tortur, mit dir zu telefonieren, eine regelrechte Tortur.
Eure Reise nach Monaco verschwiegst du mir.
Deinen sechzigsten Geburtstag im Juni hatten wir zusammen feiern wollen. Ich hatte die neue Puccini-Biographie gekauft, von der du nichts wußtest, wie ich durch eine Fangfrage festgestellt hatte. Statt auf den Geburtstagstisch habe ich sie dir dann auf den Gefängnistisch gelegt. Denn am Vorabend meiner Reise klingelte das Telefon. Stéphane konnte es nicht sein, und von der Hektik der Kollegen hatte ich an diesem Abend genug, ich war froh, ihr ein paar
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