Der Klavierstimmer
hätte gern Schulaufgaben mit ihm gemacht. Aber er machte sie mit zwei anderen zusammen, und ich wußte nicht, wie ich es ihm hätte sagen sollen. Er war auch nur ein Waisenkind, aber alles, was er tat, war irgendwie … vornehm. Das bewirkte, daß die Lehrer ihn respektvoll behandelten, wie einen Erwachsenen. Ich wäre auch gern so gewesen wie er: so vornehm. Ich studierte ganz genau, wie er es machte, aber es gelang mir nicht, es nachzuahmen. Vielleicht, dachte ich, würde ich es lernen, wenn ich sein Freund sein könnte. Aber dazu wollte es einfach nicht kommen, ich konnte machen, was ich wollte.»
An diese Worte, die Papa in das Whiskyglas hineinsprach, mußte ich denken, als ich gestern nacht herausfand, daß die Sache mit Cesare Cattolica, Papas erfundenem Gefährten des Mißerfolgs, viel komplizierter war, als ich gewußt hatte. Wieder einmal hatte ich mich in die Farben von Erfolg und Mißerfolg verbissen und holte immer noch mehr Bücher aus den Kartons. Da stieß ich auf Giorgio Bassanis Erzählung Hinter der Tür. Was mich neugierig machte, war die Widmung in schwarzer Tinte: Für Fritz von Evi, 10 . Juni 1968 . Papas dreißigster Geburtstag. Eine Frau, von der er nie erzählt hat. Eine Frau, die ihn bei seinem richtigen Namen nannte. Papa hat nur das erste Drittel des Buchs gelesen, man sieht es am Rücken. (So war es ja oft: Er las wirklich nur so lange, wie es ihn fesselte, dann legte er ein Buch weg, wie berühmt es auch sein mochte.) Kaum hatte ich zu blättern begonnen, da sprang mir der Name in die Augen: Cattolica. Aufgeregt begann ich zu lesen. Es konnte Zufall sein. Ich sehe das Gesicht Cattolicas noch vor mir: sein klares Profil, rechts neben mir, von der Präzision einer Medaille. Nein, es konnte kein Zufall sein. Zwar heißt Cattolica bei Bassani Carlo und nicht Cesare, aber das Buch ist Cesare Gàrboli gewidmet. Carlo Cattolica ist der Star der Klasse, und der Schüler Bassani bewundert ihn. Er würde gern mit ihm Schulaufgaben machen, aber Cattolica (der berühmte oder große Cattolica, wie er genannt wird) trifft sich mit zwei anderen.
Das ist eigentlich alles, was es an Ähnlichkeit mit Reto, dem Rätoromanen, gibt. (Die Welt des altsprachlichen Gymnasiums, in dem die Erzählung spielt, könnte im übrigen der Welt von Papas Heim nicht ferner sein.) Doch das genügte Papa. Er hat sein erfolgloses Werben um Reto nicht verwinden können und blieb darin ein Leben lang mit ihm verbunden. Er machte aus ihm einen Cattolica, mit dem er leben konnte: von Bellini postum anerkannt, aber im Leben mit ihm selbst durch den Mißerfolg verbunden.
Zunächst war ich enttäuscht, daß Cattolicas Name, der den ganzen Zauber von Papas Erfindungen in sich trug, nicht von ihm stammte. Sogar wütend war ich und verschüttete darüber den Tee. Aber eigentlich hat er ja mit der Figur auch den Namen ganz neu erschaffen, dachte ich schließlich. Und ich hörte Papa, wie er auf dem Heimflug von Amerika, hoch über dem Atlantik und zwischen den Zeiten, plötzlich sagte:«Das Wichtigste über Cesare Cattolica habe ich dir nie erzählt: Seine Opern hatten kein Libretto. Daß er eigentlich ein Libretto gebraucht hätte, fiel ihm erst ein, wenn die Oper schon fertig war. Und da war es zu spät.»
Warum, Papa, konnte es nicht so bleiben wie damals auf der Reise? Doch was frage ich: Ich war es doch, die ohne ein Wort des Abschieds geflohen war, gerade so, als ertrüge ich es nicht, auch nur eine Minute länger zu bleiben. Meine wenigen Besuche in den letzten Jahren: flüchtig, ohne ruhige Wahrnehmung und ohne wirkliche Gegenwart. Wie solltest du verstehen können, daß ich - ausgerechnet ich - geflohen war und mein Leben nun aus diesem Bruch heraus lebte, der auch ein Bruch mit dem Leben an der Limastraße war, wenngleich nicht mit dir, oder doch nicht in jeder Hinsicht? Oft verstand ich es ja selbst nicht.
Es war nach mehr als einem Jahr, daß wir uns zum erstenmal wiedersahen. Wir traten zusammen auf die Terrasse in den Spätsommernachmittag hinaus. Als wir uns, noch drinnen, der Terrassentür zuwandten, hobst du den Arm, um mir die Hand auf den Rücken zu legen, wie du es immer getan hattest, wenn du mich irgendwohin mitnehmen wolltest. («Komm!»sagtest du dann, und deine Hand schob mich. So war es auch auf der Amerikareise. Wenn ich davon träume, so ist es, als schöbest du mich über den ganzen Kontinent.) Doch ich wartete vergeblich auf die Berührung. Verlegen stecktest du die Hand wieder in die Tasche. Eine
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