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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Uraufführung von Gerhard Hauptmanns Theaterstück volltönend von der Bühne schallte, hätte dieser Sohn – inzwischen Urgroßvater – es wagen können, endlich laut zu singen: »Hier wird der Mensch langsam gequält / hier ist die Folterkammer / hier werden Seufzer viel gezählt / als Zeugen von dem Jammer.«
    Doch zu diesem Zeitpunkt hatte er Langenbielau samt seiner Sippe längst verlassen und in dem öden Nest Habendorf die beiden handtuchgroßen Äcker samt Kate erworben, die ihm und den Seinen künftig den Hunger auf Armeslänge fernhalten sollten. Einige Habendorfer munkelten, er habe sich den Besitz ergaunert, denn die Wänigs seien Schlawiner, denen man auf die Finger sehen müsse. Doch das wollte nichts heißen, weil die Habendorfer dasselbe von jedem behaupteten, der hier zuzog. Viele waren das freilich nicht.
    Die Wänigs erwiesen sich dann doch als rechtschaffen, und schon bald ließ man nichts mehr auf sie kommen. Sie bestellten ihre beiden Äckerchen, webten ihr Leinen, produzierten Kinder und hielten sich recht und schlecht über Wasser.
    Zwei Generationen nach dem Umzug wimmelte es in Habendorf dermaßen von Wänigs, dass sich die Jüngeren wieder in Langenbielau nach Arbeit umsehen mussten, wenn sie nicht die ganze Habendorfer Straße entlang Webstühle aufstellen wollten. Aber diesmal konnten die Wänigs von Glück sagen. In Langenbielau wuchsen gerade Großwebereien, die automatische Webstühle eingeführt hatten und lernwillige junge Weber suchten. Ein Wurf Wänigs fand seinen Platz unter selbsttätigen Schussspulen.
    So ergab es sich, dass Tag für Tag eine mehr oder minder große Gruppe von Wänigs im Morgengrauen die drei Kilometer nach Langenbielau radelte – im Sommer. Im Winter, wenn der Schnee hoch lag, konnten die Habendorfer Kinder auf ihrem Schulweg in Wänig-Fußstapfen treten.
    Großvater Wänig, der Enkel des Aufständischen, boykottierte die Industrialisierung und blieb am ererbten Handwebstuhl kleben. Summarisch brachte seiner Hände Arbeit wenig ein, aber sie erlaubte ihm, Langenbielau zu meiden. Tagtäglich vor dem ersten Hahnenschrei marschierte er in die hintere Stube, und dann hörten die Schellers unten in ihrer Wohnung im Tiefparterre bis zum Gebetläuten den Webstuhl wuchten.
    Die Behausung der Schellers in der Wänig-Kate bestand aus zwei Zimmern – Küche und Schlafkammer, beide einen halben Meter unter Straßenniveau gelegen. Diese Bleibe hatten sie Grete und Jule Wänig zu verdanken, die der Reichserlass vom August 1941 nach Chemnitz dienstverpflichtet hatte, wo sie tagsüber an Greiferwebstühlen Drillich für Kampfanzüge herstellen und nachts auf ihren Lagern im städtischen Schulhaus gegen die Wanzen ins Feld ziehen mussten.
    Im Gegensatz zu den Wänigs waren die Schellers Hiesige, jedenfalls galten sie dafür, weil Mutter Scheller aus einer Sippe stammte, die schon länger in Habendorf ansässig war als die Familien des Bäckers und des Schusters zusammengenommen.
    Ulrich und Anton kamen gleichzeitig an dem Bretterverschlag, der Vater Scheller als Tischlerei diente, zum Stehen. Mutter Wänigs Sarg – schwarz gebeizt – ragte ein Stückchen aus dem Eingang heraus. Das konnte nur eines bedeuten: Ein weiterer Sarg war in Auftrag gegeben worden, und er war bereits in Arbeit.
    Heute in aller Früh schon bestellt? Für wen denn bloß?, fragte sich Ulrich.
    Er ließ die Habendorfer Revue passieren, setzte diesen Großvater und jene Großmutter auf die Liste der möglichen Anwärter für den neuen Sarg und zählte innerhalb weniger Sekunden fünf grauhaarige Köpfe, die in Frage kamen. Morgen würde der Name im »Tagblatt« stehen. Der Vater würde natürlich bereits wissen, von wem und für wen der Sarg bestellt worden war. Aber neugierige Fragen mochte er nicht.
    Ulrich umrundete den Tischlerschuppen, und wie er es sich gedacht hatte, ragten auch aus dem Hintereingang die Seitenteile eines Sarges. Vater Scheller hatte beide Türen seiner Werkstatt aushängen müssen, um für zwei Särge Platz zu schaffen.
    Um Ulrichs Mund zuckte ein Lächeln. Ein Doppelauftrag, den hatte Habendorf nur selten zu bieten. Womöglich stand den Schellers ja ein profitabler September ins Haus. Womöglich kündigten sich einträgliche Wochen an, wie sie Anfang der Dreißiger gang und gäbe gewesen waren, als Ulrichs Vater noch richtige Möbel getischlert hatte – solche, wie sie in Wänigs guter Stube standen.
    Ulrich selbst fehlte begreiflicherweise die Erinnerung an jene

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