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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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vorbildgetreu ausgeführt bis hin zum Tarnanstrich (hergestellt aus mit Kreide vermischter Rußbeize), war diesen Preis bedenklicher Herkunft allemal wert. Und sie war existent, während ihre Vorlage samt all ihren Geschützen längst auf dem Meeresgrund moderte.
    Die Original-»Bismarck« war am 21. Mai 1941 mit Pauken und Trompeten in See gestochen und hatte in der Dänemarkstraße, einem zweihundertfünfzig Kilometer breiten Gewässer zwischen Island und Grönland, souverän den legendären englischen Schlachtkreuzer »Hood« versenkt.
    »Hurra!«, hatte der Reichsführer gebrüllt und kurzerhand entschieden, die »Bismarck« sei unschlagbar, unsinkbar und überhaupt. Beschirmt von diesen Attributen sollte sie den Atlantik kreuz und quer abgrasen und von jedwedem schwimmenden Feindesgesindel säubern. Aber die »Bismarck« widersetzte sich Hitlers Befehl: Am 26. Mai 1941 fiel sie dem Torpedo eines betagten englischen Doppeldeckers zum Opfer, der punktgenau ihr Ruder traf.
    Die Modell-»Bismarck« aus Holzabfällen und Blechdraht sollte sich länger halten. Ihre Aufbauten aus leimverstärkter Wellpappe, ihre schlanken Geschützrohre aus Schilfstängeln und Lametta aus glänzenderen Zeiten, ihre glasglatten Bugwände waren offenbar dazu angetan, Wolli-Mausgesicht tief in die Tasche greifen zu lassen.
    Ulrich beobachtete, wie Wolli den Sarg seiner Großmutter beäugte, wie er die Schnute schürzte, weil ihm wohl dämmerte, dass es mit dem Sägespäne-in-Säcke-Füllen für heute nichts mehr werden würde, da der Sarg noch einen zweiten Anstrich mit Rußbeize nötig hatte.
    Wolli scharrte ungeduldig mit den Füßen.
    Ulrich ahnte, was das Mausgesicht umtrieb.
    Vor zwei Wochen hatte Wolli den Scheller-Jungen das aus Tannenholz gefertigte Modell des Düsenfliegers Me 262 abgeschwatzt. Ulrich und Anton hatten zwei Rollen Drops und ein Viererpäckchen Butterkeks dafür bekommen. Es war klar, dass das Naschwerk über den Ladentisch von Bäcker Gabriel gegangen war, allerdings stand zu bezweifeln, ob rechtmäßig. Und vor einigen Tagen hatte Wolli ein Angebot für die neueste Kreation der Scheller-Jungen gemacht – für die Ju 88. Mausgesicht wollte das Ju-88-Modell gegen einige Streifen Leder und zwei kleine Kupferbleche eintauschen. Ein sehr lukratives Geschäft, das jedoch noch nicht zustande gekommen war. Die Ju 88 war noch nicht ganz fertiggestellt, weil Anton die letzte Woche mit Bauchschmerzen im Bett gelegen hatte. Aber ohne den Bruder wollte Ulrich sich nicht an die Vervollständigung der Ju 88 wagen, deshalb hatte er ein eigenes Projekt begonnen: ein Musikinstrument. Es besaß einen Klangkörper, über den drei Saiten aus Schafdarm gespannt waren, und würde sich hervorragend zur Begleitung eines Blasinstruments eignen, fand Ulrich. Bei Gelegenheit wollte er einmal darüber nachdenken, wie ein solches herzustellen sei. Bis dahin würde er noch weitere Zupfinstrumente herstellen, sodass er sich von diesem hier getrost trennen konnte. Wolli hatte beim Anblick von Ulrichs Zupfgeige bloß die Nase gerümpft.
    »Domin!«, schrie Anton plötzlich, stieß sich am Eckpfosten des Tischlerschuppens ab und rannte Sekunden später staubaufwirbelnd an dem vorspringenden Mauereck des letzten Gebäudes der Habendorfer Häuserzeile entlang. Ulrich tat es ihm nach, mühte sich selbstmörderisch ab, ihm auf den Fersen zu bleiben.
    Die beiden liefen auf die ausgedehnte Wegschleife zu, die zum Dominium führte.
    Ulrich brauchte nicht zurückzuschauen, um zu wissen, dass ihnen Wolli einen Moment lang nachgesehen und sich dann in die andere Richtung getrollt hatte. Notgedrungen, denn Mausgesicht durfte keinen Fuß mehr auf das Gebiet des Dominiums setzen.
    Ulrich schwante, wie Wolli die Zeit ohne sie nutzen würde.
    War das heute nicht ein hervorragender Tag, um auf leisen Sohlen in unverschlossene Stuben zu schleichen, deren Bewohner mit feuchten Augen und ebensolcher Kehle Großmutter Wänigs Heimgang betrauerten? Für jedes dahingeseufzte »Dass se hat missen zum Herrgott heim, so frieh« würde Großvater Wänig ein Gläschen Selbstgebrannten einschenken, das sollte die meisten Habendorfer an Ort und Stelle bannen.
    Ulrich hatte Schuhmacher Höhn samt Ehefrau und Tochter auf dem Weg zum Kondolenzbesuch bei den Wänigs gesehen. Und der Schuster würde so lange nicht aus der Wänig-Stube weichen, bis die Schnapsflasche leer war. Jeder Habendorfer, ob jung oder alt, wusste das.
    Dieser kollektiv ausgelebte Kummer um die alte Mutter

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