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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Wänig würde Mausgesicht massenhaft Zeit verschaffen, in der Höhn’schen Kate herumzustöbern, die Schusterwerkstatt zu durchkämmen, dies und das einzustecken. Garnknäuel beispielsweise, Nägel, vielleicht Schnürsenkel und eben Lederreste.
    Ulrich mutmaßte, dass Wolli schlau genug war, in den Häusern seines Heimatortes nichts zu entwenden, das nicht auch verloren gehen oder sonst irgendwie abhanden hätte kommen können. Mausgesicht würde weder bunte Tücher noch hübsches Geschirr stehlen, denn derartiges Diebesgut wäre leicht zu identifizieren. Alles in allem würde Wolli sowieso höllisch aufpassen, um nicht noch mal bei einer Dieberei ertappt zu werden. Von vier Gläsern eingeweckter Blutwurst würde er nur eines entwenden, denn der rechtmäßige Besitzer konnte sich geirrt, verzählt, verrechnet haben. Wer würde schon annehmen, dass ein Dieb ein Glas gestohlen und drei stehen gelassen hatte?
    Ulrich glaubte geradezu zu spüren, wie es Wolli-Mausgesicht wurmte, dass er sich vor einigen Wochen im Dominium dabei hatte erwischen lassen, wie er ein dickes Stück von der geräucherten Schweineschulter heruntersäbelte. Diese Unbesonnenheit hatte ihm die Tür zum Schlaraffenland von einer Sekunde auf die andere für immer verriegelt. Nie wieder würde Wolli im Windschatten der Scheller-Jungen die Dorfstraße hinunter zum Gutshof des Barons rennen, wo auf einen wie ihn, der es mit »mein« und »dein« nicht so genau nahm, ein unbegrenztes Angebot wartete.

2
    Ulrich lag im Kampf mit sich, wem prinzipiell mehr Verehrung gebühre: dem Dominium an sich – Garten Eden und Spender der edelsten Früchte und Viktualien – oder dem Verwalter des Dominiums, Großvater Scheller, Schöpfer von Strohpresse und Kranrad samt Balken, Herr und Gebieter über einen phantastischen Deutz-Gasöl-Motor. Manchmal geschah es, dass Ulrich vor lauter Ehrfurcht zu atmen vergaß, wenn der Großvater mit einer Lötlampe den sensiblen Glühkopf des Einzylinders vorglühte, das Flämmchen geduldig einwirken ließ, bis sich der Dieselverschnitt entzündete. Und stets hielt Ulrich die Luft an, wenn der Apparat zu rattern und zu fauchen begann, worauf sich, wie mit Geisterhand angetrieben, die Dreschmaschine oder eine der Pressen in Bewegung setzte.
    Für Ulrich war Großvater Scheller der König des Dominiums – unbestritten –, auch nachdem ihn Anton belehrt hatte, dass der »Baron« Eigentümer dieser Wunderwelt sei.
    Welcher Baron? Hatte schon einmal jemand ein Spänchen von diesem Baron gesehen? Eben.
    »Der Baron lässt sich nicht zu uns Habendorfern herab«, hatte ihm Anton daraufhin erklärt.
    Ach so, hatte Ulrich gedacht, er sitzt zur Rechten Gottes oder eventuell zu seiner Linken. Jedenfalls musste er ganz nah bei Gott sein, denn wie der HERR , so konnte auch der Baron zu sich rufen, wen er wollte. Im 14/18er-Krieg hatte er fortwährend Gefolgsmänner zu sich gerufen. Er rief mit kolossaler Strenge, und viele machten sich auf den Weg. Keiner kehrte je zurück.
    »Kein Lebendiger hat dem Baron je ins Antlitz geschaut, auch der Großvater nicht«, behauptete Anton.
    Soweit es den Großvater betraf, hatte Anton sicherlich recht. Großvater Scheller war dem Baron nie persönlich begegnet.
    Bis zu dem Tag im schwarzen Jahr ’29, an dem ein Advokat des Barons vor Schellers Tür stand und Einlass verlangte, hatte Großvater Scheller mit Fleiß und Geschick die alte Mühle am Waldbach betrieben. Längst hatte sich herumgesprochen, über welch herausragendes handwerkliches Können er verfügte. Scheller setzte jedes Bauernfuhrwerk instand, so marode es auch sein mochte. Der Scheller, erzählten sich die Leute die Straße zwischen Breslau und Waldenburg hinauf und hinunter, der Scheller ist ein gelernter Stellmacher. Er versteht sich aufs Schmieden wie kein anderer, und er ist ehrlicher und vertrauenswürdiger als der Bischof von Krakau.
    Das schien irgendwann dem Baron zu Ohren gekommen zu sein, denn der schickte seinen Advokaten zur Mühle und ließ ihn Großvater Scheller als Verwalter fürs Dominium verpflichten. Scheller übergab das eigene Unternehmen seinem ältesten Sohn und machte sich daran, das Landgut des Barons samt Stall- und Weidevieh, samt Gerät- und Liegenschaften, samt Knechten und Mägden durch die Wirtschaftskrise zu steuern. Das gelang ihm derart gut, dass der Baron zehn Jahre lang kein einziges Mal rufen musste.
    Um die Mühle am Waldbach brauchte sich Großvater Scheller nicht zu sorgen; unter der Leitung seines

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