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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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ertragreichen Jahre. Aber Mutter Scheller hatte hin und wieder davon erzählt, wie ihr Mann einen Kleiderkasten (eintürig mit Schublade unten) geschreinert hatte und dazu passend zwei Bettgestelle und zwei Nachtschränkchen, als sie mit Anton schwanger gewesen war.
    Im Sommer 1934 schien allerdings eine recht ansehnliche Herrenkommode für den Habendorfer Wirt den Schlussstrich unter die positive Seite der Bilanz gezogen zu haben. Fast über Nacht blieben danach die lukrativen Aufträge aus, weil die Habendorfer offenbar wieder einmal an Komfort sparen mussten.
    In den folgenden mageren Zeiten konnte Vater Scheller seine kleine Familie recht und schlecht mit dem Anfertigen von Melkschemeln, Stiegengeländern und den unvermeidlichen Särgen über Wasser halten.
    Dann kam das Jahr ’39. Das aus den Bezirken Nieder- und Oberschlesien neu geformte Schlesien wurde mit etlichen Woiwodschaften aus polnischem Staatseigentum ausgepolstert und sollte mit Volldampf für die Reichsrüstungsindustrie produzieren. Die Auftragslisten quollen über. Abertausende von Metallgegenständen – vom Zahnrad bis zum Hochdruckkessel – wurden von der Reichsrüstungskammer in Schlesien bestellt.
    Ulrich war gerade ein Jahr alt, da gelangten mit Ruß und Schwefel und sonstigen Giftgasen aus den Fabriken auch etliche abgegriffene Reichsmarkstücke bis nach Habendorf. Einige davon durfte Scheller in Schubladenschränke, Tische, Stühle und Tellerborde verwandeln. Aber die gute Auftragslage hielt nicht lange an, und wären die Särge nicht gewesen, hätte Mutter Scheller ihren Buben im neuen Jahrzehnt Rübenkraut vorsetzen müssen.
    Eben diese Särge hätten Scheller – ab 1942 ungefähr – reich wie Krösus werden lassen können, wäre ihm bei jeder Anzeige im lokalen »Tagblatt« unter der Rubrik »Ein Herz steht still, wenn Gott es will« der Auftrag für den zugehörigen Sarg vergönnt gewesen. Ein Henry Ford der Särge wäre Scheller geworden, hätte man die Verblichenen nicht sarglos weit im Westen oder noch weiter im Osten in feindlicher Erde verscharrt. Doch weil dies so war, steuerte die Schreinerei Scheller wieder in eine Flaute. Bald kam verschärfend hinzu, dass der flotte Marsch deutscher Soldaten vom Dritten stracks ins Himmlische Reich den Nährwert der deutschen Reichsmark so drastisch dezimierte, dass Scheller froh sein konnte, wenn die Früchte seiner deutschen Schreinerarbeit mit ein paar lausigen Kartoffeln oder einem schwartigen Schweinefuß honoriert wurden.
    Ulrich kehrte zur Straßenseite des Tischlerschuppens zurück, und dort fand er Wolli-Wänig-Mausgesicht im Disput mit Anton.
    Hat Wolli also schon mitbekommen, dass ein frischer Sarg ansteht, interpretierte Ulrich das Auftauchen des illegitimen Wänig-Sprosses exakt richtig.
    »Mecht mer besser warten, bis dä andere da ausm Weg is«, erklärte Anton dem Mausgesicht soeben.
    Ulrich nickte zustimmend. Hirnverbrannt, jetzt zwischen den Särgen herumkrabbeln zu wollen, um ein paar Hände voll Sägespäne aufzulesen. Klüger, sich zu gedulden, bis Großmutter Wänigs Sarg auf dem Handkarren die Dorfstraße entlang zur Wänig-Kate rollte – unbestritten klüger.
    Wolli-Mausgesicht schien enttäuscht. Er linste in die Werkstatt und trat von einem Fuß auf den anderen: »Jemersch, jemersch.«
    Ulrich schaute ihn examinierend an. Mausgesicht war also schon wieder auf eines der Modelle scharf, die die Scheller-Jungen aus Holzabfällen bastelten.
    Er war ihnen nachgelaufen, um – ja hauptsächlich wohl, um ihnen auf die Finger zu sehen. Für Späne-in-Säcke-Füllen durften sich die Scheller-Jungen nämlich kleine Holzstücke nehmen, die Mausgesicht deshalb so interessierten, weil sich diese Brettchen und Leistchen unter ihren Händen in die aufregendsten Dinge verwandelten. Dinge, die zu erwerben Wolli-Mausgesicht alles, schlichtweg alles dransetzte.
    Der Zeppelin, den Anton und Ulrich vor drei Monaten gebaut hatten, hatte Mausgesicht vier Butter-Honig-Stullen gekostet, die bestimmt nicht leicht zu organisieren gewesen waren. Aber für Wolli schien sich der Handel gelohnt zu haben, denn bereits vier Wochen später hatte er den beiden ein Angebot für die »Bismarck« gemacht, das sie nicht ablehnen konnten: ein Solinger Messer. Ulrich hätte schwören mögen, dass Wolli das Messer aus der Joppentasche eines Wänig-Schwagers aus Schweidnitz geklaut hatte, der zu Erntedank nach Habendorf gekommen war. Aber was ging ihn das an? Die »Bismarck«, von den Scheller-Jungen

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