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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Nach allem, was das Kind hat durchmachen müssen, sagte Tat einmal wütend zu Edie. Das genügte, um Edie zum Schweigen zu bringen, wenigstens für eine Weile. Denn niemand konnte vergessen, dass Allison und das Baby an jenem schrecklichen Tag als Einzige draußen gewesen waren, und auch wenn Allison erst vier gewesen war, gab es kaum einen Zweifel daran, dass sie etwas gesehen hatte, höchstwahrscheinlich etwas so Furchtbares, dass es sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
    Unmittelbar danach war sie von der Familie und von der Polizei rigoros befragt worden. War jemand im Garten gewesen, ein Erwachsener, ein Mann vielleicht? Allison hatte unerklärlicherweise angefangen, ins Bett zu machen und nachts schreiend aus wütenden Alpträumen hochzuschrecken, aber sie hatte sich geweigert, ja oder nein zu sagen. Sie lutschte am Daumen, drückte ihren Stoffhund fest an sich und wollte nicht einmal sagen, wie sie hieß oder wie alt sie war. Niemand, nicht einmal Libby, die sanfteste und geduldigste ihrer alten Tanten, konnte ihr ein Wort entlocken.
    Allison erinnerte sich nicht an ihren Bruder, und sie hatte sich auch nie an irgendetwas im Zusammenhang mit seinem
Tod entsinnen können. Als sie klein war, hatte sie manchmal nachts wach gelegen, wenn alle andern im Haus schon schliefen, und dann hatte sie auf den Schattendschungel an der Schlafzimmerdecke gestarrt und so weit zurückgedacht, wie sie konnte, aber alles Suchen war nutzlos, denn es gab nichts zu finden. Der freundliche Alltag ihres frühen Lebens war immer da – Veranda, Fischteich, Miezekatze, Blumenbeete, nahtlos, strahlend, unveränderlich –, aber wenn sie ihre Erinnerung weit genug zurückwandern ließ, erreichte sie unweigerlich einen seltsamen Punkt, wo der Garten leer war, das Haus hallend und verlassen, allenthalben Anzeichen dafür, dass noch kürzlich jemand da gewesen war (Wäsche hing an der Leine, das Geschirr vom Lunch war noch nicht abgeräumt), aber ihre ganze Familie war fort, verschwunden, und Robins orangegelbe Katze – damals noch ein Kätzchen, nicht der träge, feistbackige Kater, der aus ihm werden sollte – war plötzlich sonderbar geworden, jagte wild und mit leeren Augen quer über den Rasen und schoss auf einen Baum, voller Angst vor ihr, als wäre sie eine Fremde. Sie war nicht ganz sie selbst in diesen Erinnerungen, nicht, wenn sie so weit zurückreichten. Zwar erkannte sie die physikalische Umgebung, in der sie angesiedelt waren, genau – George Street Nummer 363, das Haus, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte –, aber sie, Allison, war nicht erkennbar, nicht einmal für sich selbst: Sie war kein Kleinkind, auch kein Baby, sondern nur ein Blick, ein Paar Augen, die auf einer vertrauten Umgebung verweilten und sie betrachteten, ohne Persönlichkeit, ohne Körper, Alter oder Vergangenheit – als erinnere sie sich an Dinge, die sich zugetragen hatten, bevor sie geboren war.
    Über all das dachte Allison nicht bewusst nach, sondern auf äußerst vage und unfertige Weise. Als sie klein war, kam sie nicht auf den Gedanken, die Bedeutung dieser körperlosen Eindrücke zu hinterfragen, und jetzt, da sie älter war, fiel es ihr erst recht nicht ein. Sie dachte kaum über die Vergangenheit nach, und darin unterschied sie sich wesentlich von ihrer Familie, die über wenig anderes nachdachte.
    Niemand in ihrer Familie konnte das verstehen. Sie hätten
es nicht einmal verstanden, wenn sie den Versuch unternommen hätte, es ihnen zu erklären. Für beständig von Erinnerungen belagerte Gemüter wie die ihren, für die Gegenwart und Zukunft allein als Systeme der Wiederkehr existierten, war eine solche Weltsicht unvorstellbar. Die Erinnerung – fragil, dunstig-hell, wundersam – war für sie der Funke des Lebens selbst, und fast jeder ihrer Sätze begann mit irgendeinem Appell an sie: »Du erinnerst dich doch an den Batist mit dem grünen Zweigmuster, oder?«, fragten ihre Mutter und ihre Tanten dann beharrlich. »An die rosarote Floribunda? An diese Zitronenteekuchen? Erinnerst du dich an dieses wunderbar kalte Osterfest, als Harriet noch ein ganz kleines Ding war – als ihr im Schnee Eier gesucht und in Adelaides Vorgarten einen großen Schnee-Osterhasen gebaut habt?«
    »Ja, ja«, log Allison dann. »Ich erinnere mich.« Und in gewisser Weise tat sie es auch. Sie hatte die Geschichten so oft gehört, dass sie sie auswendig kannte und, wenn sie wollte, erzählen, ja, sogar ein oder zwei beim Überliefern

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