Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Würde ihm irgendwann klar werden, dass ihn nichts daran hindern konnte, sie zu verpetzen? Wenn er erst begriffen hätte, dass ihr Wort gegen seins stand... aber bis dahin würde vielleicht genug Zeit vergangen sein.
Die Leute waren unaufmerksam. Sie kümmerten sich um nichts, und sie würden alles vergessen. Bald wäre jede Spur, die sie vielleicht hinterlassen hatte, kalt. So war es doch auch bei Robin gewesen, oder? Die Spur war kalt geworden. Und ihr dämmerte die hässliche Erkenntnis, dass Robins Mörder – wer
immer es gewesen sein mochte – irgendwann dagesessen und die gleichen Gedanken gedacht haben musste wie sie jetzt.
Aber ich habe niemanden ermordet, dachte sie und starrte auf die Bettdecke. Er ist ertrunken. Ich konnte nichts dazu.
»Na, Kleine?«, sagte die Schwester, die hereingekommen war, um nach der Infusion zu sehen. »Brauchst du irgendwas?«
Harriet saß reglos da, presste sich die Faust an den Mund und starrte auf die Bettdecke, bis die Schwester wieder gegangen war.
Nein: Sie hatte niemanden ermordet. Aber es war ihre Schuld, dass er tot war. Und vielleicht hatte er Robin nie ein Haar gekrümmt.
Bei solchen Gedanken wurde ihr ganz schlecht, und sie bemühte sich, willentlich an etwas anderes zu denken. Sie hatte getan, was sie hatte tun müssen, und es war albern, jetzt anzufangen, an sich und ihren Methoden zu zweifeln. Sie dachte an den Piraten Israel Hands, der im blutwarmen Wasser vor der Hispaniola trieb, und diese Untiefen hatten etwas Alptraumhaftes und Prachtvolles: Grauen, falscher Himmel, endloses Delirium. Das Schiff war verloren; sie hatte versucht, es auf eigene Faust zurückzuerobern. Fast wäre sie ein Held gewesen. Aber jetzt, befürchtete sie, war sie überhaupt kein Held, sondern etwas völlig anderes.
Am Ende – ganz am Ende, als der Wind die Zeltwand blähte und eindrückte, als eine einzelne Kerzenflamme auf dem verlorenen Kontinent blakte –, hatte Captain Scott mit tauben Fingern in einem kleinen Notizbuch von seinem Scheitern geschrieben. Ja, er hatte tapfer das Unmögliche in Angriff genommen, hatte den toten, nie bereisten Mittelpunkt der Welt erreicht: aber umsonst. Alle Tagträume hatten ihn im Stich gelassen. Und ihr wurde klar, wie traurig er gewesen sein musste, dort draußen in den Eisfeldern in der antarktischen Nacht, Evans und Titus Oates schon verloren unter endlosem Schnee, Birdie und Dr. Wilson still und stumm in ihren Schlafsäcken, wo sie davontrieben und von grünen Wiesen träumten.
Düster schaute Harriet hinaus in das antiseptische Zwielicht. Eine große Last drückte sie, eine Finsternis. Sie hatte
Dinge gelernt, von denen sie nie gewusst hatte, Dinge, von denen sie nicht geahnt hatte, dass es sie zu wissen gab, und doch war es auf seltsame Weise die geheime Botschaft von Captain Scott: dass Sieg und Niederlage manchmal dasselbe waren.
Harriet erwachte spät aus einem unruhigen Schlaf und sah ein deprimierendes Frühstückstablett vor sich: Fruchtgelatine, Apfelsaft und rätselhafterweise ein kleiner Teller mit weißem, gekochtem Reis. Die ganze Nacht hatte sie schlecht geträumt. Ihr Vater hatte bedrückend nah an ihrem Bett herumgestanden, war hin- und hergegangen und hatte mit ihr geschimpft, weil sie etwas kaputtgemacht hatte, das ihm gehörte.
Dann wurde ihr klar, wo sie war, und ihr Magen zog sich angstvoll zusammen. Verwirrt rieb sie sich die Augen und setzte sich dann auf, um nach dem Tablett zu greifen. Erst da erblickte sie Edie, die im Sessel an ihrem Bett saß. Sie trank Kaffee – keinen Kaffee aus der Krankenhaus-Cafeteria, sondern welchen, den sie von zu Hause mitgebracht hatte, in der Thermosflasche mit dem Schottenkaro – und las die Morgenzeitung.
»Oh, gut, du bist wach«, sagte sie. »Deine Mutter kommt gleich.«
Sie benahm sich munter und völlig normal. Harriet versuchte, ihre Beklommenheit niederzuzwingen. Über Nacht hatte sich nichts geändert, oder?
»Du musst frühstücken«, sagte Edie. »Heute ist ein großer Tag für dich, Harriet. Wenn der Neurologe dich gesehen hat, wirst du heute Nachmittag vielleicht schon entlassen.«
Harriet bemühte sich um Fassung. Sie musste so tun, als sei alles in Ordnung; sie musste den Neurologen davon überzeugen, dass sie völlig gesund war, und wenn sie dazu lügen musste. Es war lebenswichtig, dass sie nach Hause gehen durfte. Sie musste ihre ganze Energie darauf konzentrieren, aus dem Krankenhaus zu entkommen, bevor der Prediger sich noch einmal in ihr
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