Der kleine Freund: Roman (German Edition)
die
Kissen. Die Decken waren weich. Geräusche dehnten sich geschmeidig über ihrem Kopf, und dann strudelte sie schnell hinunter in die weite, todtraurige Leere, die alte Schwerelosigkeit erster Alpträume.
»Aber ich wollte keinen Tee«, sagte eine gereizte, vertraute Stimme.
Es war jetzt dunkel. Zwei Leute waren da. Ein mattes Licht umschien ihre Köpfe. Und dann hörte Harriet zu ihrem Entsetzen eine Stimme, die sie schon lange nicht mehr gehört hatte: die Stimme ihres Vaters.
»Was anderes als Tee hatten sie nicht.« Er sprach mit einer übertriebenen Höflichkeit, die an Sarkasmus grenzte. »Höchstens noch Kaffee und Saft.«
»Ich hab dir gesagt , du sollst nicht nach unten in die Cafeteria gehen. Hier im Flur steht ein Cola-Automat.«
»Du brauchst ihn nicht zu trinken, wenn du nicht willst.«
Harriet lag ganz still und hielt die Augen halb geschlossen. Wenn ihre Eltern zusammen in einem Zimmer waren, wurde die Atmosphäre jedes Mal frostig und unbehaglich, ganz gleich, wie höflich sie miteinander umgingen. Warum sind sie hier?, dachte sie benommen. Ich wünschte, es wären Tatty und Edie.
Dann wurde ihr mit Schrecken klar, dass sie gehört hatte, wie ihr Vater den Namen Danny Ratliff erwähnte.
»Ist das nicht furchtbar?«, sagte er jetzt. »Sie haben alle darüber geredet, unten in der Cafeteria.«
»Worüber?«
»Danny Ratliff. Robins kleiner Freund – weißt du nicht mehr? Er kam manchmal in den Garten, und sie haben zusammen gespielt.«
Freund?, dachte Harriet.
Jetzt war sie hellwach, und ihr Herz schlug so wild,dass sie Mühe hatte, nicht zu zittern; sie lag mit geschlossenen Augen
da und lauschte. Sie hörte, wie ihr Vater einen Schluck Kaffee trank. Dann sprach er weiter. »Ist noch zu Hause vorbeigekommen. Nachher. Ein verwahrloster kleiner Junge. Hat angeklopft und sich entschuldigt, weil er nicht bei der Beerdigung gewesen war, aber er hätte niemanden gehabt, der ihn im Auto mitgenommen hätte.«
Aber das ist nicht wahr, dachte Harriet voller Panik. Sie konnten sich nicht ausstehen. Das hat Ida gesagt.
»O ja!« In der lebhaften Stimme ihrer Mutter lag so etwas wie Schmerz. »Das arme kleine Kerlchen. Doch, ich erinnere mich an ihn. Oh, das ist wirklich schlimm.«
»Komisch.« Harriets Vater seufzte tief. »Mir ist, als wäre es gestern gewesen, dass er und Robin im Garten spielten.«
Harriet war starr vor Entsetzen.
»Es hat mir so Leid getan«, sagte Harriets Mutter. »Es hat mir so Leid getan, als ich vor einer Weile hörte, dass er auf die schiefe Bahn geraten war.«
»Aber das musste so kommen, bei so einer Familie.«
»Na ja, sie sind nicht alle schlecht. Ich habe Roy Dial auf dem Gang getroffen, und er hat mir erzählt, dass einer der anderen Brüder vorbeigekommen ist, um Harriet zu besuchen.«
»Ach, wirklich?« Harriets Vater nahm wieder einen großen Schluck Kaffee. »Glaubst du denn, er wusste, wer sie war?«
»Das würde mich nicht wundern. Wahrscheinlich ist er deshalb vorbeigekommen.«
Ihre Unterhaltung wandte sich anderen Dingen zu. Harriet drückte voller Angst das Gesicht ins Kissen und rührte sich nicht. Nie war sie auf den Gedanken gekommen, dass ihr Verdacht gegen Danny Ratliff falsch sein könnte – einfach falsch. Wenn er Robin nun überhaupt nicht umgebracht hatte?
Auf das schwarze Grauen, das sie bei diesem Gedanken überfiel, war sie nicht gefasst gewesen: wie eine Falle, die hinter ihr zuschnappte. Sofort versuchte sie, die Vorstellung beiseite zu schieben. Danny Ratliff war schuldig, das wusste sie. Sie wusste es genau, denn es war die einzige einleuchtende Erklärung. Sie wusste, was er getan hatte, auch wenn es sonst niemand wusste.
Und trotzdem kamen ihr Zweifel, plötzlich und mit großer Wucht, und mit ihnen die Angst, sie könnte blindlings in etwas Furchtbares hineingetappt sein. Sie versuchte sich zu beruhigen. Danny Ratliff hatte Robin ermordet, es musste so sein. Aber wenn sie versuchte, sich genau zu entsinnen, woher sie es wusste, waren die Gründe nicht mehr so klar, wie sie es einmal gewesen waren, und wenn sie sich jetzt daran erinnern wollte, konnte sie es nicht mehr.
Sie biss sich innen auf die Wange. Warum war sie so sicher gewesen, dass er es getan hatte? Sie war einmal sehr sicher gewesen, weil es sich einfach richtig angefühlt hatte, und das war das Wichtigste gewesen. Aber jetzt war da eine beklemmende Angst, die nicht vergehen wollte – wie der faulige Geschmack in ihrem Mund. Warum war sie so sicher gewesen?
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