Auf Couchtour
Typisch Putte
Reichtum, Ruhm, Bewunderung, sich über seine eigenen Grenzen hinwegsetzen, die große Liebe finden: Es gibt so vieles, was wir uns wünschen – das meiste davon bleibt wohl für immer eine Luftblase, die zerplatzt, wenn wir danach greifen. Aber ist es nicht großartig, dass wir, sobald wir unsere Augen schließen, in jede erdenkliche Rolle schlüpfen und dem Alltag, zumindest für einen Moment, ein Schnippchen schlagen können?
Wovon träumen Sie?
Mein Name ist Rita Engel. Klingt nett, oder? Engel, meine ich. Wenn Ihnen jetzt ein gütiges, elfengleiches Wesen mit güldenem gelocktem Haar durch den Kopf geistert, müssen wir dringend etwas klären, bevor ich weitererzähle. Engel gibt es ja in den verschiedensten Erscheinungsvarianten – von madonnengleich bis supersexy … Ich bin der Typ Putte – pausbäckig, fleischfüßig und speckbäuchig, wie auf diesen Lackbildern, die man früher in Poesiealben geklebt hat, damit man weniger zu schreiben brauchte. Streichen Sie bitte auch das mit den lockigen Haaren, meine sind aalglatt und absolut kräuselresistent. Was die Güte angeht, da mache ich meinem Namen nicht immer alle Ehre. Das ist auch ziemlich schwierig, bei dem Anspruch. Ich finde, meine guten und schlechten Eigenschaften halten sich in etwa die Waage – kommt auf die Situation an. Meine Freundin Charline würde genau in diesem Moment Einspruch erheben, weil sie davon überzeugt ist, dass ich, was diesen Punkt angeht, noch an mir arbeiten sollte. Sie ist aber gerade nicht hier, und das erspart mir eine seitenlange Rechtfertigung meiner Charakterschwächen. Ich komme auf meine Art mit dem Leben zurecht und gönne mir fast immer die Freiheit, ich selbst zu sein.
Ich habe ein Talent. Schön, werden Sie denken, das hat doch jeder. Mag sein. Aber nicht jeder ist in der Lage, es zu erkennen. Ich brauchte beinahe zwanzig Jahre, um meine Gabe für mich zu entdecken und zu nutzen. Bis es so weit war, habe ich mir auf Teufel komm raus gewünscht, etwas anderes besonders gut zu können. Fantasie und Träumerei fand ich irgendwie unnütz. Ich wollte viel lieber malen, basteln, schnell laufen, tief tauchen oder ein Instrument perfekt spielen können. Nun, ich habe im Laufe der Jahre all das probiert. Meine Malversuche wurden von meiner Umwelt nach vielsagenden Minuten des Schweigens als interessant bewertet. Wahrscheinlich hätte jeder Affe ein besser erkennbares Motiv aufs Papier gesteppt. Die Welt ist eben noch nicht reif für meine »Surrealistischen Interpretationen verworrener Gedankengänge« (so der nachträgliche Arbeitstitel meiner Werke). Ich lasse sie liegen, bis die Menschheit bereit dafür ist, in der Hoffnung, dass mich meine Kunst nicht überlebt. Mit meinen anderen Wunschtalenten erging es mir ähnlich. Beim Basteln habe ich mir die Haare gerauft, leider ohne mir vorher den Kleber von den Händen zu waschen. Das Ergebnis: ein Kurzhaarschnitt und ein klumpiges Etwas aus Watte, Streichhölzern, Topflappen und Schlüpfergummi, das nur die liebenden Augen meiner Mutter als Nachbau der Titanic zu erkennen vermochten. Wir ließen das Ding zu Wasser. Es schwamm nicht, sank aber dank der vielen vollgesogenen Topflappenschichten ebenso dramatisch wie das Original. Dass mein Lauftempo dem einer Schnecke mit Mehrfamilienhaus gleichkommt, bestätigte mir meine ehemalige Sportlehrerin sogar schriftlich. Sie stellte mich offiziell vom Laufen frei, weil sie befürchtete, ich würde die in den frühen Morgenstunden angepfiffene Sportplatzrunde nicht vor Einbruch der Dämmerung schaffen. Und tauchen – oje, ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Weiß Gott, ich habe mich bemüht, mich regelrecht abgestrampelt für dieses verdammte Freischwimmerabzeichen – ein Muss für jeden Klein-Mädchen-Badeanzug. Der Großteil meines Körpers ging auch unter, so, wie es sein soll, aber mein Kopf nicht. Ich vermute, es lag an der Luftblase unter meiner Kunstrasenbadekappe aus Hartgummi, die von der Stirn bis zum Nacken alles hermetisch abschnürte, inklusive Blutzufuhr – was eine Erklärung dafür sein könnte, warum mir immer schwindelig wurde, wenn ich sie trug. Zu meiner Gitarre: Ich habe sie irgendwann zerschmettert, um mich wenigstens einmal wie ein Rockstar zu fühlen. Ich will damit nur sagen: Man kann die Schöpfung nicht überlisten – man ist, wie man ist. Je eher man das begreift, desto weniger Zeit verbringt man damit, vor eine Wand zu laufen.
Mittlerweile weiß ich mein Talent zu
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