Der kleine Lord
diese beiden Tiptons
telegraphisch zu benachrichtigen, daß sie sofort
herüberkommen sollen, sie darf keine Ahnung davon haben und
muß gänzlich unvorbereitet mit ihnen konfrontiert
werden. Bei Licht betrachtet, ist sie eine ziemlich armselige
Intrigantin und wird höchst wahrscheinlich die
Geistesgegenwart verlieren und sich sofort verraten.«
Und so geschah es. Mr. Havisham setzte, um sie keinen Verdacht
schöpfen zu lassen, seine Unterredungen mit der
Prätendentin in der bisherigen Weise fort und versicherte sie,
daß er eifrig damit beschäftigt sei, die Berechtigung
ihrer Ansprüche gesetzlich prüfen und feststellen zu
lassen, so daß ihr der Kamm außerordentlich schwoll
und sie im Gefühl der Sicherheit jeden Tag anmaßender
und kecker wurde.
Eines schönen Morgens, als sie,
Zukunftsträumen nachhängend, in ihrem kleinen
Wohnzimmer in dem einfachen Gasthause saß, ward Mr. Havisham
bei ihr gemeldet: als er aber auf ihren Wunsch eintrat, folgten ihm
nicht weniger als drei unangemeldete Besucher, der erste ein pfiffig
dreinschauender halbwüchsiger Junge, dann ein hochgewachsener,
breitschulteriger junger Mann und schließlich Seine
Herrlichkeit der Graf in eigner Person.
Sie sprang auf und stieß einen gellenden
Schreckensschrei aus – sie hatte weder Zeit noch Kraft, einen
solchen zu unterdrücken. Seit Jahren hatte sie der beiden, die
da hereintraten, höchstens hier und da einmal
flüchtig gedacht, und wenn sie es gethan, so hatten ihre
Gedanken ein Weltmeer und viele Tausende von Meilen zwischen sie und
jene gelegt – die Möglichkeit eines Wiedersehens war
ihr nie in den Sinn gekommen.
»Hallo, Minna!« sagte Dick, dessen Manieren
leider nicht so vollendet waren, um in des Grafen erlauchter Gegenwart
ein Grinsen zu vermeiden.
Der hochgewachsene junge Mann – Ben Tipton
– sah sie schweigend an.
»Die Dame ist Ihnen bekannt?« fragte Mr.
Havisham, von einem zum andern blickend.
»Jawohl,« sagte Ben, »wir kennen
uns!« Damit wandte er ihr den Rücken, als ob er den
verhaßten, widerlichen Anblick nicht länger ertragen
könnte, und trat ans Fenster. Die Frau, die sich so
vollständig entlarvt und preisgegeben sah, geriet nun in eine
an Wahnsinn grenzende Wut, die freilich für Ben und Dick
nichts Neues war, und erging sich in entsetzlichen Schimpfreden,
Drohungen und Verwünschungen, was auf Dick die Wirkung hatte,
daß sein Grinsen sich nicht mehr ganz innerhalb der Grenzen
des Schönen hielt. Ben blieb abgewandt, regungslos stehen.
»Ich kann es vor jedem Gerichtshof
beschwören, daß sie es ist,« sagte er dann
zu Mr. Havisham, »und wenn es nötig ist, kann ich
außerdem noch ein Dutzend Zeugen dafür beibringen.
Ihr Vater ist von Haus aus ein anständiger Mann, freilich sehr
heruntergekommen, die Mutter war gerade wie sie. Der Vater lebt noch
und hat Ehrgefühl genug, sich seiner Tochter zu
schämen. Er kann's Ihnen sagen, wer sie ist, und ob sie mich
geheiratet hat oder nicht.«
Dann, plötzlich die Faust ballend, wandte er sich zu
ihr.
»Wo ist das Kind?« fragte er. »Es
geht mit mir! Mit dir ist der Knabe fertig, so gut wie ich!«
Kaum hatte er ausgesprochen, als sich die in das Schlafzimmer
führende Thüre ein wenig aufthat und das Kind,
vermutlich durch das laute Sprechen neugierig gemacht, hereinguckte. Es
war kein hübsches Kind, aber das Gesicht war klug und
angenehm, ganz und gar dem Vater ähnlich, und am Kinn war die
sehr sichtbare, dreizackige Narbe.
Ben ging auf ihn zu und nahm ihn bei der Hand; seine eigne
zitterte heftig.
»Ja,« sagte er, »daß der
der meine ist, kann ich auch beschwören. Tom,« wandte
er sich zu dem Kleinen, »ich bin dein Vater und ich will dich
mitnehmen. Wo ist dein Hut?«
Der Junge deutete auf einen Stuhl, wo derselbe lag. Das
Mitgenommenwerden schien ihm offenbar eher erfreulich, und er hatte in
den paar Jahren seines Erdenlebens des Ueberraschenden schon so viel
erfahren, daß es ihm gar nicht verwunderlich vorkam, in diesem
Fremden seinen Vater sehen zu sollen. Die Frau, die vor wenig Monaten
zu ihm gekommen war, in das Haus, wo er von seiner ersten Kindheit an
lebte, und ihm gesagt hatte, daß sie seine Mutter sei, war dem
kleinen Manne so zuwider, daß er sehr bereitwillig war, sich
von ihr zu trennen. Ben nahm den Hut und ging nach der Thüre.
»Wenn Sie mich wieder brauchen,« sagte er zu
Mr. Havisham, »so wissen Sie ja, wo ich zu finden
bin.«
Damit ging er
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