Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Ich
I n meinem Zimmer stehen zwei schmale Betten, eins für mich und eins für meine Schwester. Außer den Betten gibt es nur noch einen Schrank, ein Mini-Fernseher und eine Stereoanlage stehen auf einem kleinen Regal, weil hier kein Platz für weitere Möbel ist. Fotos von uns hängen an der Wand.
Ein winziger Raum. Außerdem gibt es in der Wohnung noch eine Küche und das Zimmer meiner Eltern.
Meine Mutter heißt Aurora. Sie geht in den Wohnungen anderer Leute putzen. Dafür bekommt sie fünf Euro die Stunde. Mein Vater arbeitet auf dem Land, er erntet in Rosarno Orangen. Und wenn es keine Orangen zu ernten gibt, repariert er Autos, aber schwarz, das heißt er hat keine eigene Werkstatt, und der Kunde bezahlt ihn bar auf die Hand.
Wenn mein Vater auf den Feldern arbeitet, steht er um fünf Uhr morgens auf. Und wir alle, meine Mutter und ich, stehen mit ihm auf, aus Respekt.
Wir wohnen in einer Sozialwohnung.
Die Dusche im Bad ist mitten an der Wand gegenüber der Tür angebracht, der Boden ist ein wenig geneigt, damit das Wasser abfließen kann. Wenn man sich wäscht, wird alles nass, denn es gibt weder einen Vorhang noch eine Wand. Also musst du, wenn du dich gewaschen hast und noch nach Duschgel und Shampoo duftest, das Bad trocken wischen – und schon schwitzt du wieder. Aber meine Mutter ist nun mal auf Sauberkeit fixiert. Wenn auf den Kacheln Tropfen zurückbleiben, die dann Kalkflecken bilden, schreit sie immer.
Das ist also mein Zuhause. Küche, zwei Zimmer, ein kleines Bad und ein Fenster, das in meinem Zimmer, das ich aber nicht öffnen kann.
Selbst wenn ich hin und her laufen wollte, um meine Gedanken und meine Angst unter Kontrolle zu halten, ich könnte es nicht. Dafür ist kein Platz. Deshalb bleiben meine Gedanken immer hier, mit der Angst, treten auf der Stelle, jetzt, wo ich das Haus nicht mehr verlassen kann.
Früher habe ich immer gebetet. Aber jetzt kann ich nicht einmal mehr beten.
Sonntag ist Wahl, aber ich werde nicht hingehen. Ich werde nicht einmal für den Segen zu Palmsonntag in die Kirche gehen. Ich kaufe nicht ein. Ich gehe nicht ans Meer. Ich habe keine Bedürfnisse mehr. Ich weiß nur eins: Ich will nicht davonlaufen. Ich trage keine Schuld. Und da ich nicht weiß, wo ich sonst hingehen sollte, entscheide ich mich zu bleiben.
Jetzt habe ich viel Zeit in dieser Wohnung. Ich habe keine Eile. Kein Ziel. Gar nichts. Außer meiner Vergangenheit.
Sie werden sich sicherlich fragen, warum ich die Wohnung nicht verlassen kann. Das könnten Sie nicht verstehen, selbst wenn ich versuchte, es Ihnen zu erklären. Geschichten wie meine kann man nicht vom Ende her erzählen. Aber ich kann berichten, wie ich so weit gekommen bin. Ich habe ja Zeit. Viel Zeit.
Ich kann meine Geschichte von Anfang an erzählen, als ich noch ein kleines Mädchen war und alle mich nur »Püppchen« nannten. Jeder nannte mich so, meine Mutter, die Verwandten und sogar die Leute in der Kirche. Ich hatte Grübchen in den Wangen und lachende Augen. Mit den Sommersprossen auf der Nase und dem süßen, leicht schmollenden Gesichtsausdruck sehe ich aus wie eine Puppe. Mitten auf der linken Wange habe ich einen Leberfleck. Meine Haare sind lang und schwarz und glänzen. Und außerdem bin ich klein. Ein Meter, ein Meter fünfzig. So klein wie eine Puppe.
»Annarella, du bist so hübsch wie eine Puppe«, sagten mir alle. Und ich habe ihnen geglaubt.
Dies ist die Geschichte einer dreizehnjährigen Hure. Meine Geschichte. Es ist nicht leicht, sie aufzuschreiben. Und genauso wenig wird es leicht sein, sie zu lesen. Entscheiden Sie jetzt, ob Sie alles erfahren wollen. Doch wenn Sie einmal damit anfangen, dann haben Sie auch den Mut und lesen Sie sie ganz zu Ende, so wie ich den Mut hatte, alles zu durchleben, wovon ich Ihnen erzählen werde.
Ich beginne am Anfang. Als alle mich noch »Püppchen« nannten.
Das Dorf
»Du Hure. Dreckige Schlampe.«
Der Aufschrei einer Frau und quietschende Reifen. Das Auto wendet. Es fährt zurück unter die Fenster des Sozialbaus, und die Frau schreit wieder. Noch lauter. Sie zieht die Konsonanten in die Länge.
»Scheißßßßnutttte.«
Anna ist im Haus. Sie schließt knallend die Fensterläden.
»Dreckige Schlampe!«
Das Auto fährt mit quietschenden Reifen auf der menschenleeren Straße davon. Es ist drei Uhr nachmittags. Ein kühler Wind kündigt den nahenden Abend an. Aus dem Inneren des Hauses hört man keine Antwort, keine Reaktion. Keine Geräusche. Nicht einmal einen
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