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Der Knochenmann

Der Knochenmann

Titel: Der Knochenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Haas
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das Fenster hinuntergestiegen ist, hat er noch weniger als nichts gesehen. Aber er hat die fürchterliche Kälte im Kühlraum gespürt. Die Wände haben sich angefühlt wie in dem Schneehaus, das er vor hundert Jahren gebaut hat. Und dann hat er den Lichtschalter gefunden. Und dann: gute Nacht.
    Er hat die junge Löschenkohl-Wirtin sofort erkannt. Sie hat ihrer Schwester immer noch sehr ähnlich gesehen. Obwohl nur noch die Hälfte von ihr dagewesen ist. Den Kunstsammler Marko hat er erst bei näherem Hinschauen erkannt, obwohl der noch völlig unversehrt in seinem Kühlregal gelegen ist. Aber der Brenner hat ihn ja nur einmal kurz gesehen, wie er in der Grazer Galerie gesagt hat: «Ich bete, daß Sie recht haben. Aber ich wette, daß Sie nicht recht haben.»
    Vor zwei Tagen ist das gewesen. Aber dem Brenner ist es jetzt vorgekommen wie in einem anderen Leben. Und natürlich, für den Kunstsammler Marko ist es ja auch wirklich ein anderes Leben gewesen.
    Und dann hat der Brenner noch eine dritte Leiche entdeckt. Die ist auf dem Bauch gelegen, und trotzdem ganz einfache Identifikation. Weil der Ortovic hat keinen Kopf aufgehabt. Und im nächsten Moment hat der Brenner gespürt, wie hinter seinem Rücken die Stahltür aufgegangen ist.
    Der alte Löschenkohl hat den eleganten weinroten Pyjama angehabt, den ihm seine Schwiegertochter zum fünfundsechzigsten Geburtstag geschenkt hat. Er ist nur ein, zwei Schritte auf den Brenner zugegangen und hat ihn gefragt, was er hier sucht.
    Aber der Brenner hat kein Wort herausgebracht. Vielleicht kennst du diese Fleischerhacken, mit denen berührst du eine Sau nur, und sie zerfällt schon in zwei Teile. Und der alte Löschenkohl hat jetzt versucht, den Brenner ein bißchen mit seiner Fleischerhacke zu berühren.
    Und wie soll ich sagen – es ist ihm gelungen. Der Brenner ist zwar so flink zur Seite gehüpft, daß ich sagen muß, mit 45 Jahren eine Leistung. Aber wenn du heute vor der Wahl stehst: Kopf ab oder einen flinken Sprung, dann machst du den flinken Sprung, 45 Jahre hin oder her.
    Aber du machst ihn vielleicht doch nicht mehr so flink wie ein Junger. Und das wird es gewesen sein, wieso der Brenner seine linke Hand nicht schnell genug nachgezogen hat. Jetzt ist die Hacke ausgerechnet dort auf die Fleischbank niedergesaust, wo sich der Brenner für seinen lebensrettenden Sprung mit der linken Hand abgestützt hat. Muß man noch von Glück reden, daß ihm der Alte nur den kleinen Finger abgehackt hat.
    Weh hat es nicht getan, aber natürlich trotzdem kein Vergnügen. Und noch dazu ist der Brenner jetzt im Eck gestanden. Und das sagt man so leicht, jemand steht im Eck, bildlich, aber wenn du dann wirklich in einem Eck stehst, ist noch einmal was anderes. Zwischen der Tür und dem Brenner ist der Alte mit seiner Fleischerhacke gestanden. Und die kleine Fensterluke in zwei Meter Höhe. Der Brenner ist zwar über zwanzig Jahre jünger als der alte Löschenkohl gewesen. Aber natürlich, mit so einer Fleischerhacke in der Hand sind die Jahre wieder relativ.
    Und der Alte hat die Fleischerhacke schon wieder über dem Kopf gehabt. In dem Augenblick ist dem Brenner zum zweiten Mal an diesem Morgen aufgefallen, wie unerträglich laut die Vögel draußen gesungen haben.
    Weil wenn du heute mit deinem Leben abschließt, dann fallen dir diese unwichtigen Details auf. Und während die Fleischerhacke in Richtung seines Quadratschädels gesaust ist, hat er ganz genau den Guten-Morgen-Gesang von Bachstelze, Kleiber und Grasmücke unterschieden. Weil der Brenner hat in der Volksschule in Puntigam einen Lehrer gehabt, der hat ihnen beigebracht, die verschiedenen Vogelgesänge zu unterscheiden, das ist dem Brenner jetzt wieder eingefallen, während der alte Löschenkohl die Fleischerhacke auf ihn hinuntergedroschen hat.
    Aber einmal hat sich der Brenner noch auf die Seite geworfen, obwohl man sagen muß, was hat das für einen Sinn, ob er dich jetzt beim zweiten oder dritten Versuch spaltet, macht keinen großen Unterschied. Aber in so einem Moment regiert natürlich der Instinkt.
    Die Hacke ist so tief in die Fleischbank hineingesaust, daß der Alte sie fast nicht mehr herausgebracht hat. Im nachhinein kann man leicht sagen, diese zwei Sekunden, bis der Alte die Hacke aus der Fleischbank herausbringt, das wäre dem Brenner seine Chance gewesen, da hätte er ihn überwältigen müssen. Aber wenn du heute mit nur mehr neun Fingern in einer Kühlkammer liegst, dann sieht die Sache schon wieder

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