Der Köder
Stoischen, die mit ihren Gefühlen hinterm Berg hielten, brachten ihn immer wieder ins Schleudern, und Lily Gilbert schien eine
Kombination aus beiden zu sein.
«Verzeihen Sie, Mrs. Gilbert», unterbrach Magozzi höflich und
bewirkte damit, dass Gino die Augen verdrehte. «Würde es Ihnen
etwas ausmachen, mich nach draußen zu begleiten und mir zu
zeigen, wo Sie Ihren Mann gefunden haben? Vielleicht Schritt für
Schritt die gesamte Situation nachzuvollziehen, während sich Gino mit Ihrem Freund Sol unterhält? Auf die Weise würden wir alles
schneller hinter uns bringen.»
Die Erinnerung daran, wie sie die Leiche ihres Mannes gefunden
hatte, ließ die erste Andeutung von Schwäche in ihrem Blick
aufflackern. Nur ein leichtes Anzeichen, aber es war da.
«Es tut mir wirklich leid, Sie darum bitten zu müssen. Wenn es
Ihnen zu schwer fällt, brauchen wir es nicht jetzt zu tun.»
Ihr Blick wurde augenblicklich streng. «Natürlich müssen wir es
jetzt machen, Detective. Mehr als das Jetzt besitzen wir nicht.» Sie marschierte zur Tür, ein kleiner alter Soldat, ganz auf seine Mission konzentriert. Magozzi beeilte sich, ihr die Tür zu öffnen.
«Einen Moment noch.» Marty runzelte die Stirn. «Wo ist Jack,
Lily? Warum ist er noch nicht da?»
«Welcher Jack?»
«Lily, sag nicht, dass du ihn gar nicht angerufen hast…»
Sie war zur Tür hinaus, bevor er ausgesprochen hatte.
«Mist.»
«Wer ist denn Jack?», fragte Magozzi, der noch immer die Tür
aufhielt.
«Jack Gilbert. Ihr Sohn. Sie haben schon lange nicht mehr
miteinander gesprochen, aber, mein Gott, sein Vater ist gerade
gestorben… ich muss ihn anrufen.»
Während Marty zum Kassentresen ging und die Tasten eines
Telefons drückte, trat Gino an Magozzis Seite und sagte leise: «Hör mal, wenn du da draußen mit der alten Dame redest, warum fragst du sie bei der Gelegenheit nicht, wie ein Fliegengewicht von
fünfundvierzig Kilo es geschafft hat, eine hundert Kilo schwere
Leiche den ganzen Weg hier hereinzuschleifen und sie dann auch
noch auf den Tisch zu hieven?»
«Alle Achtung, Mr. Detective, danke für den Tipp.»
«Stets zu Diensten.»
«Du magst sie nicht besonders, oder?»
«He, ich mag sie, bis auf die Tatsache, dass sie undurchschaubar
ist wie eine Mattglasscheibe.»
«Hm. Sie hat mit keinem Ton deinen Aufzug erwähnt. Das war
sehr freundlich, würde ich sagen.»
«Hör mal lieber zu. Ich überlege: Verdammt, wie hat sie ihn
bewegt? Und ich antworte mir: Teufel auch, vielleicht hat sie das gar nicht getan. Vielleicht hat sie ihn hier drinnen erschossen und nur gesagt, er sei draußen umgebracht worden, damit wir denken, wir
hätten keinen Tatort.»
Magozzi dachte einen Moment darüber nach. «Interessant. Völlig
abwegig. Aber mir gefällt die Art, wie du denkst.»
«Danke.»
Magozzi öffnete die Tür, um nach draußen zu gehen. «Aber sie
hat es nicht getan.»
«Verdammt, Leo, das weißt du doch gar nicht…»
«Und ob ich das tue.»
KAPITEL 5
Detective Aaron Langer hatte den Punkt im Leben erreicht, an dem
man zu hoffen aufhörte, das nächste Jahr werde besser als das
vergangene, und sich nur noch wünschte, es werde weniger schlimm.
Eben das geschah, wenn man ins mittlere Alter kam. Alte
Menschen, die man liebte, wurden krank und starben, junge Leute,
die man hasste, wurden befördert und einem vor die Nase gesetzt,
der Aktienmarkt brach zusammen und leerte die Pensionskasse.
Nicht zuletzt begann man körperlich abzubauen und dem eigenen
Vater zu gleichen, obwohl man doch davon überzeugt gewesen war,
man würde sich nie, niemals so gehen lassen. Wenn einer käme und
den Fünfjährigen die Wahrheit über das Leben sagte, dachte er,
würde es in den Kindergärten zu einer Selbstmordwelle kommen.
Bis jetzt hatte der Job ihm über das Schlimmste hinweggeholfen.
Sogar als seine Mutter an Alzheimer gestorben war, sogar als seine Zusatzpension zusammen mit seinem Finanzberater nach Brasilien
durchgebrannt war, hatte sich der Job als Zuflucht erwiesen, als der Teil seines Lebens, bei dem die Grenze zwischen Gut und Böse klar und deutlich verlief und er genau wusste, was zu tun war. Mord war böse, die Mörder zu schnappen war gut. Simpel.
Oder zumindest war es das gewesen, vor dem Geheimnis. Jetzt
war diese gerade Linie, von der er sein Leben lang nicht abgewichen war, furchtbar undeutlich, und er wusste kaum, wohin er treten
sollte. Was er am dringlichsten brauchte, war ein
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