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Der König von Havanna

Der König von Havanna

Titel: Der König von Havanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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erwiderte nichts. Aber Rosa flüsterte ihr ins Ohr: »Lass ihn nicht einfach da liegen. Hilf ihm.« Und jedes Wort von Rosa war heilig. Daisy half ihm aufzustehen. Sie stützte ihn auf ihre Schulter und brachte ihn ins Haus. In der Bar gegenüber, an der Ecke Virtudes und Águila, tranken zwei Nachbarn Rum und beobachteten die Mühe, die die Zigeunerin mit dem Vagabunden hatte.
    »Das hat der Kartenlegerin gerade noch gefehlt. Früher hat sie streunende Hunde und Katzen aufgelesen, jetzt sind’s Bettler.«
    »Sie ist ein guter Mensch, die Zigeunerin. Mich sollte sie mal auflesen.«
    »Mager ist sie und alt … na ja, klar, darum nennt man dich auch ›Omasauger‹.«
    »Hör auf, Kumpel, lass diesen blöden Spitznamen. Ich respektiere dich doch auch.«
    »Hahaha.«
    »Sie ist zwar alt, aber noch in Form. Dazu mit Haus und Scheinchen.«
    »Meinst du, sie hat schön was unter der Matratze?«
    »Klar. Wenn sie jeden Tag zwanzig Konsultationen hat. Falls sie sich je meiner annehmen sollte, würde ich leben wie ein König.«
    »Mensch, wenn sie dir so gut gefällt, warum machst du dich dann nicht an sie heran?«
    »Sie beachtet mich nicht. Seit Jahren bin ich hinter ihr her, aber immer schlüpft sie mir zwischen den Fingern hindurch.«
    Daisy schloss die Tür. Rey war sehr mager und abgezehrt, aber trotzdem war er ihr zu viel. Sie ließ ihn am Boden liegen. Immerhin hatte er schon die Augen geöffnet. Sie gab ihm ein Glas Wasser mit Zucker. Rey erholte sich etwas.
    »Bist du verletzt, krank oder so?«
    »Nein.«
    »Wie heißt du?«
    »Rey.«
    »Ich heiße Daisy. Jetzt mache ich erst mal etwas Wasser warm, damit du dich waschen kannst, und dann koche ich etwas für uns beide.«
    »Warum tust du das?«
    »Für die Gottheiten. Sie haben mich dazu angewiesen.«
    »Völlig … ich will sterben.«
    »Sprich nicht so und spiel dich nicht auf, das ist böse. Schluss jetzt, hoch mit dir und ab ins Wasser!«
    Rey hatte nicht die Kraft, sich dem Bad zu widersetzen. Das Haus stammte aus dem 19. Jahrhundert, war groß und baufällig. Kolonialstil, mit dicken Wänden aus Stein und sehr hohen Stützbalken. Es hatte Diele, Wohnzimmer, Vorzimmer, vier Schlafzimmer. Alles unverhältnismäßig groß. Die vier Schlafzimmer gingen auf einen geräumigen Innenhof. Im hinteren Trakt lagen eine riesige Küche, das Esszimmer und das Bad. Mütterlich versah Daisy Rey mit Seife, Handtuch, einer Hose, Unterhose, Strümpfen und einem kurzärmeligen Hemd. Alles vom Militär. Seit Jahren war sie Offizierswitwe und hatte alles aufbewahrt: Dienstmützen, Stiefel, Medaillen, Diplome, Trophäen. Wenn sie einen jungen Mann bei sich im Haus hatte – junge Männer entzückten sie, aber sie hütete sich sehr vor den giftigen Zungen der Nachbarn –, nahm sie sich seiner an und machte ihm ihre Aufwartung mit all den Fetischen. So verabschiedete sie sich nach und nach von der Erinnerung an den Verstorbenen, der immer ihr Mann, Vater, Gatte, Freund, Beschützer, Gebieter gewesen war, der sie schwängerte und vier Mal gebären ließ.
    Er war ihr Ein und Alles. Die größte Verrücktheit der beiden war, miteinander zu vögeln, wenn er Uniform und die Pistole am Gurt trug. Nur der Schwanz und die Eier wurden aus dem Hosenschlitz hervorgeholt. Das brachte Daisy immer ganz aus dem Häuschen. Mit gerade fünfzig starb er, und alles hatte ein abruptes Ende. Von da an wurde Daisy immer mehr zur Zigeunerin. Mehr und mehr. Irgendwas zog sie. Sie wohnte allein in dem großen Haus. Drei Söhne lebten in Miami, ein anderer bei seiner Frau und sie allein mit den Gottheiten und Rosas ständig gegenwärtigem Geist, der ihr ins Ohr flüsterte. Als Rey aus dem Bad kam, war er ein anderer Mensch. Daisy bereitete ein anständiges Essen zu: Reis, schwarze Bohnen, geschmortes Fleisch, gebratene reife Bananen, Salat mit Avocados, Bohnen und Ananas, kaltes Wasser und Kaffee.
    »Willst du eine Zigarre oder ein Glas Rum?«
    »Ja.«
    Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte sich Rey als Mensch. Nie zuvor hatte er so gegessen, so schmackhaft und darüber hinaus an einem Tisch sitzend. Immer aß er sonst mit dem Teller in der Hand. Nie hatte eine saubere, nach Parfum duftende Frau an seiner Seite gesessen, in einem so großen Haus voller Heiligenfiguren und Blumen, nie war er so verhätschelt worden. All das war unglaublich. Wie konnte das geschehen?
    »Wie alt bist du, Rey?«
    »Ähmm …«
    »Du willst mir etwas vorlügen. Sag die Wahrheit.«
    »Siebzehn.«
    »Das habe ich mir

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