Der Koffer
Vaters wegen?
»Wie geht es deinem Vater?«, fragt Sonnie.
Klaus lässt sie los.
»Gut. Er hat die dritte Frau, sie ist siebenundzwanzig«, sagt er.
Sie laufen hintereinander die Treppe hinab.
Alle sind schon da. Dicke, fremde, gesetzte, ältere Menschen mit schütterem Haar.
Sie schauen auf Sonnie.
Sonnie schämt sich ihres Aufzugs. Alle haben sich schick gemacht. Kostüme. Spängchen. Anzüge. Glitzerstiefel. Krawatten. Sie muss in den Augen dieser Menschen wie eine Vogelscheuche aussehen.
Eine vierzigjährige Vogelscheuche.
Klaus tritt an den langen Kneipentisch und begrüßt die Klassenkameraden. Er stellt sie einzeln Sonnie vor, legt hier und da das lange Kinn fragend über seine Schulter und ruft:
»Erinnerst du dich?«
Sonnie nickt. Sonnie erinnert sich nicht. Uwe, Tino, Markus, Maik, Robbie, Sven, Silvio, Monika, Manuela, Anne-Katrin, Katharina, Kerstin, Claudia, noch eineClaudia, Sabine, noch eine Sabine, noch eine Sabine. Dann steht sie vor ihrer Jugendfreundin Gabi. Gabi hat lange Haare, trägt ein blaues Kleid. Runzeln um die Augen, starrer Blick, maskenhaftes Lächeln. Gabi zieht sie mit einem Ruck an sich heran und schlägt ihr zweimal auf den Rücken. Sie riecht nach Moschus.
»Mein Beileid«, sagt sie.
»Danke«, sagt Sonnie.
»War ja gerade noch rechtzeitig«, sagt Gabi.
Für mich ist es zu spät.
»Wir haben uns ja auch eine Weile nicht gesehen«, sagt Gabi. »Meine Kinder sind schon aus dem Haus.«
Sonnie versucht, sich an Käse-Schabis Kinder zu erinnern. Es waren eine Menge, jedes Jahr eins. Schemen ohne Gesicht. Alle aus dem Haus.
»Zehn Jahre«, sagt Sonnie, »die Beerdigung.« Sie sagt nicht Mutters Beerdigung oder Muttis Beerdigung, sie sagt »die Beerdigung«. Alter Zorn steigt in ihr hoch.
Ein angenehmes Mädchen.
Eine warmherzige Frau.
Da schlägt die Echse wieder mit dem schweren Schwanz in ihrem Bauch. Sonnie setzt sich hin. Wie Talglichter sind ihr die Gesichter zugewandt. Und was soll sie tun, was sagen? Es ist, als hätte man sie ohne Drehbuch in eine Rolle geschubst. In eine Rolle ungewissen Ausgangs.
Die Rolle ungewissen Ausgangs heißt Leben, sagt Ezekiel.
Bleib, wiede bist, sagt der Großvater.
»Wir freun uns, dass du uns auch mal wieder die Ehre gibst.«
Eine Frau mit blondierten Haaren nickt ihr zu. Sie könnte auf einem Amt arbeiten. Auf einem Arbeitsamt.
»Amerika ist sowieso Scheiße«, sagt der ihr als Tino vorgestellte Mann, fader aschblonder Hamsterkopf. Zustimmendes Raunen. Sonnie sieht sich nach Klaus um, aber der steht an der Bar.
»Und der Bush, so ein Idiot. Wie kann man da nur leben?«
Ein Tribunal.
Sonnie wird es wie ihr Vater machen. Sie wird eine Frage stellen, die keine besondere Kenntnis dieser Personen erfordert.
»Und wie ist es euch so ergangen?«
»Wir können nicht klagen«, sagt ein Mann mit Schnauzer. Er nimmt das »wir« auf. Er antwortet im Kollektiv. »Wir könnten, aber wir wollen nicht.«
»Ihr kriegt davon vielleicht nichts mit in eurem Amerika, aber hier sieht es nicht so rosig aus«, sagt eine von den Sabinen. Ihre Nachbarin tippt ihr auf den Oberarm. »Lass mal, sonst sind wir nachher noch die Jammer-Ossis«, sagt sie. »Scheint Sonja ja selbst nicht rosig zu gehen.« Ihr Blick gleitet an Sonnies East-Village-Look herunter. »Hat wohl doch nicht geklappt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten?«
»Immer noch so ’n Pech mit Männern?«
»Bist du verheiratet? Ach … Geschieden?«
»Hast du Kinder?«
»Wie viel verdient man denn da so als Journalistin?«
Sonnie sieht Bilder aus Matthew Barneys Cremaster-Zyklus . Ein Widder-Mann, rothaarig wie Klaus, steppt ein Loch in einen Marmorboden. Er steppt und stepptund steppt. Das Loch wird größer und größer. Sie kann die Parallelität dieser Männer sehen, ihre monströsen Innenleben unter akademischer Blässe, rollende Hoden bei Barney, Picasso-Monster bei Rhett, und Beuys, Beuys, der sich zwischen ihren Beinen erhebt und den Hut abnimmt.
Wir sind einander noch gar nicht vorgestellt worden.
Sonnie steppt. Sie steppt ein Loch in den Boden ihrer Erinnerungen. In »Auerbachs Keller« ist inzwischen weitergesprochen worden.
»Back to the roots«, ruft ein gelblicher Mann mit lockerer Gesichtshaut und hebt sein Sektglas. Er hat schwarz gefärbte Haare, rötlich im Ansatz. Schuller. Schuller, der sie immer in den Schwitzkasten genommen und »Lok« oder »Chemie« gefragt hat.
Lok oder Chemie?
Zwei Fußballvereine, die es sicher längst nicht mehr gibt. Das ist
Weitere Kostenlose Bücher