Grabesstille
Er bezahlte das Buch in bar, genau wie er es bei all den anderen Büchern zu diesem Thema gemacht hatte. Er sprach mit niemandem und tat nichts, was bei einem Angestellten oder Kunden einen nachhaltigen Eindruck von ihm hinterlassen hätte.
Es waren viele Kunden im Laden, als er seinen Einkauf tätigte; er wählte stets Zeiten, in denen in den Buchhandlungen mit Sicherheit viel Betrieb sein würde.
Doch selbst bei einem leeren Laden hätte er sich kaum Gedanken machen müssen. Wenn er beschloss, seine Macht zu verbergen, war er ein unscheinbarer Mann in einer Welt voller Menschen, die ihn selten besser beschreiben konnten als die Person, die sie jeden Morgen im Spiegel sahen.
Oh, vielleicht konnten sie auch enge Freunde beschreiben, ihre Kinder und Ehegatten und die Kollegen, mit denen sie Tag für Tag zusammenarbeiteten. Zur Not auch noch die Nachbarn. Aber keine stillen Unbekannten aus der Buchhandlung. Keinen Unbekannten, der noch nie zuvor da gewesen war und nie wieder kommen würde.
Es löste leise Erregung in ihm aus, diese Bücher zu kaufen, und er wusste, dass sich manche Männer so fühlten, wenn sie Pornos kauften. Als er es auf dem Nachhauseweg in der Tüte auf dem Beifahrersitz liegen sah, wusste er, dass ihn die Thematik des Buches erregen würde. Nicht so sehr wie das reale Erlebnis – nichts erregte ihn je so sehr wie das Reale.
Das hier handelte von Dahmer.
Wir haben nicht den gleichen Geschmack, dachte er und musste einen kleinen Anfall von Heiterkeit über seinen Witz unterdrücken.
Wenn er das Buch einmal und noch einmal durchgelesen hatte, würde er es zu den anderen Büchern über seine Glaubensgenossen stellen. Bücher über Bianchi, Speck und Bundy; über Vorgänger – Mors, Lucas und Pomeroy – und noch andere; Bücher über Mörder und ihr Denken, über Mörder und ihre Opfer, über Mörder und die, die sie jagten.
Zuerst hatte er die Bücher gelesen, weil er den Trieb begreifen wollte, den Drang, von dem er aufgefressen zu werden fürchtete. Doch jetzt war es nur noch eine Art Unterhaltung. Mittlerweile, Jahre nachdem er mit dem Aufbau seiner kleinen Bibliothek begonnen hatte, wusste er, dass er alles verstanden hatte, was es zu verstehen gab: Er wusste, dass nur ein Mann von seiner Begabung den Erfordernissen seines Verlangens gewachsen war.
Es mangelte ihm weder an Wagemut noch an Kreativität. Jeder neue Aspekt, jede Steigerung des Erlebnisses bestätigte nur, was er bereits wusste: Er war einzigartig in der Geschichte.
Bei diesem Gedanken empfand er leise Traurigkeit darüber, dass er nicht gefasst werden würde, denn er wusste, dass ihm dieser eine zusätzliche Nervenkitzel entginge – der einzige, der ihm fehlte. Die Anerkennung.
Weithin bekannt zu sein war ein starker Reiz. Er träumte davon, malte es sich fast ebenso intensiv aus wie die Morde.
Warum mordete er?
Alle würden es wissen wollen.
Warum mordete er?
Alle würden fragen.
Und er würde sprechen – ruhig und mit Nachdruck –,
und alle würden die Antwort hören.
1
VIER JAHRE SPÄTER
Montag Nachmittag, 15. Mai
Das Gefühl, beobachtet zu werden, hatte mich auf dieser Reise fast permanent begleitet, und nun spürte ich es wieder. Ich versuchte es zu ignorieren und mich auf das Taschenbuch zu konzentrieren, das ich las, doch meine Bemühungen scheiterten. Ich hob den Blick von der Seite und sah auf den Gefangenen drei Reihen weiter vorn, wobei ich damit rechnete, dass er mich erneut anstarrte. Er schlief. Wie er das beim lauten Dröhnen der Flugzeugpropeller fertig brachte, wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Wie Nicholas Parrish überhaupt schlafen konnte, war mir ein Rätsel – doch ich vermute, das ist einer der Vorzüge, wenn man absolut gewissenlos ist.
Wenn es also nicht Parrish war, der mich beäugte, wer war es dann?
Ich sah mich in der Kabine um. Die meisten Männer – auch die, die keine Soziopathen waren – schliefen. Zwei von Parrishs Wächtern waren wach, sahen aber nicht zu mir her. Die anderen beiden machten ein Nickerchen. Ich sah mich nach hinten um. Ben Sheridan, einer der forensischen Anthropologen, schaute aus dem Fenster. David Niles, der zweite, saß auf der anderen Seite des Gangs und las. Und da, neben ihm, war der Starrer.
Er starrte mich eigentlich nicht direkt an, sondern studierte mich vielmehr, fand ich. Ohne jede Feindseligkeit. Ja, von der gesamten, nur aus Männern bestehenden Gruppe, die mit mir in dem kleinen Flugzeug saß, war er sogar der Einzige, der
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