Der Koffer
wird er es nennen. In zärtlichem Tonfall. Du Dummerchen.
Das Kind wird ihn mit Sonnie verbinden. Es wird ihn mit dem Leben verbinden. Es wird ihn mit der Welt verbinden. Er wird keine Zeit mehr haben für Selbstzweifel, Paranoia, Todessehnsucht. Er wird nicht einmal mehr Zeit haben für Cowboyfantasien. Er wird Windeln wechseln, Legotürme bauen, Hausaufgaben kontrollieren. Er wird irdisch sein, verantwortungsvoll und autoritär. Er wird nicht in die Sonne reiten. Er wird nicht vor die Subway springen. Er wird erlauben und verbieten, loben und tadeln, belohnen und strafen. Er wird da sein. Er wird leben. Er muss Sonnie finden. Er muss Sonnie sagen, dass er da sein wird. Stärke durchrieselt Rhett. Groß ist jetzt sein Mut.
Er verabschiedet sich knapp, stürmt hinaus ins Dunkel, überquert die Straße, wie in Zeitlupe. Die Straße ist vereist. Er rutscht aus. Er schliddert, schliddert in den heranrasenden Buick. Bremsen quietschen. Rhett wird durch die Luft gewirbelt. Seine Wirbelsäule kracht. Sein Schädel stößt auf das Pflaster. Es tut nicht weh. Er sieht Pink. Er denkt: »Ach, so fühlt sich das an.«
Es ist dunkel. Es ist fremd. Es riecht nach Asphalt und Gebratenem, aber die Süße, das Moderige der Queen fehlt.
Sonnie läuft durch Leipzigs Straßen. Verfallene Fassaden neben schicken. Baustellen. Straßenbahnen, dieaus dem Nichts kommen. Viel Beton. Und Blicke. Mit jedem Schritt merkt Sonnie, dass ihre Erscheinung aufreizend ist, dass sie Anstoß erregt. Ihre zerfetzte Jeans, darüber das Trägerkleid, darunter ein T-Shirt. Der abgewirtschaftete Flokati. Die Siebzigerjahre-Sonnenbrille, ohne Hinweis auf Sonne. So sieht man nicht aus. So läuft man nicht rum. Nicht in dem Alter. Und auch sonst nicht. Man lächelt nicht, wenn eben die Großmutter gestorben ist. Man ruft nicht »Hallo« in grimmige Passantengesichter. Eine Hergelaufene ist sie, eine Fremde.
Verkorkst.
Entwurzelt. Entwurzelt, mutterlos, das Balg im Leib, den Mann betrogen.
Der Vater kann ihr gestohlen bleiben. Die Großmutter ist tot, warum auch nicht.
Ein Sturm kommt auf. Sonnie läuft gegen ihn an. Im Kopf den Ton des Beerdigers, den sie eben besucht hat. Herr Krüger senior von Pietät Krüger. Bestattungen ab 569 Euro. Einfühlsame Trauerreden.
Was einer ist, was einer war, beim Scheiden wird es offenbar.
Wir müssen lernen, loszulassen.
Sie wollte nur weg. Weg auch mit der toten Oma. Am liebsten hätte Sonnie die spillerige Leiche in einen Schuhkarton gepackt und draußen im Garten vergraben. Wie einen Kanarienvogel.
Sie hatte mit ihrer zerbissenen Fingerkuppe in die Hochglanzbroschüre von Pietät Krüger getippt. Sie hatte irgendwas genommen, einen Sarg, ein Ritual, einen Termin. Diese Art von Tod muss erledigt werden.
Sonnie läuft die Hainstraße hoch, sie biegt am Marktplatzab, umrundet eine Baustellenflucht, biegt ab, biegt noch mal ab.
I don’t want to move to a city where the only cultural advantage is being able to make a right turn on a red light.
Wieder das Gefühl, nackt im Spiegelkabinett zu laufen. Sie wünscht sich Chola her und Ezekiel. Sie findet »Auerbachs Keller« nicht. Es ist schon nach acht.
Sie bleibt stehen. Da war etwas. Da war etwas wie ein schwerer Echsenschlag in ihrem Bauch.
»Sonja?«
Vor ihr steht ein Mann in einem Norwegerpullover.
»Bist es doch?«
Der Mann trägt ein Basecap.
»Erkennst mich nicht?«
Er sächselt unmerklich. Langes nachdenkliches Gesicht. Tiefe Kerben um den Mund. Großes Kinn. Viereckige Brille.
»Hab ich mich wirklich so verändert?«
Das »wirklich« klingt vertraut. Wikklisch. Die Stimme klingt vertraut. Aber das Gesicht. Obwohl … die Sommersprossen auf dem Nasensattel …
Der Mann nimmt die Mütze ab. Er hat rote Haare.
»Klaus?«
Der Mann umarmt Sonnie.
Klaus, ihr Banknachbar, ihr Jugendfreund.
Sartre. André Gide. Der erste Zungenkuss.
Der Sohn von Rolf, ihrer großen Liebe.
Es war keine gute Idee, herzukommen, denkt Sonnie. Der Koffer ist schuld. Der Koffer ist an allem schuld. Dieser unselige Koffer.
Dann durchströmt sie Wärme. Klaus gibt ihr die Umarmung, die der Vater ihr verwehrt hat. Es war eine gute Idee, herzukommen, denkt Sonnie. Klaus nimmt ihre Hand.
Sie sind wieder sechzehn. Das dickliche Mädchen, das eine Frau werden will. Der schlaksige rothaarige Junge, den alle Pumuckel nennen.
Sie stehen vor »Auerbachs Keller«. Ob Klaus von ihrem Selbstmordversuch weiß? Ob er weiß, dass sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hat seines
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