Der Kommandant und das Mädchen
auch meine Eltern für akzeptable Arbeiten eingeteilt worden waren. Mein Vater war in der Küche der Kommune tätig, während meine Mutter als Schwester im Krankenhaus half. Uns allen war die gefürchtete Zwangsarbeit erspart geblieben, bei der Juden unter der Aufsicht von brutalen Deutschen schwerste körperliche Anstrengungen erdulden mussten.
Bereits am Nachmittag ging ich das erste Mal ins Waisenhaus. Es war vom Judenrat in der ulica Józefińska eingerichtet worden, in einem winzigen Gebäude, das aus Parterre und erstem Stock bestand. Im überbelegten Inneren war es recht dunkel, aber ein kleines Rasenstück hinter dem Haus bot den rund dreißig Kindern einen Platz zum Spielen. Die meisten von ihnen waren noch Kleinkinder, und fast ausnahmslos hatten sie ihre Eltern in der Zeit seit Kriegsbeginn verloren. Es machte mir Spaß, den Kleinen beim Spielen zuzusehen. Durch die spärlichen Essensrationen im Ghetto erschreckend mager geworden, waren sie doch noch Kinder und nahmen kaum Notiz von den Dingen um sich herum – von der abscheulichen Umgebung, von der alltäglichen Gewalt und der düsteren Tatsache, dass sie keine Eltern mehr hatten, die sich in dieser kalten, erbarmungslosen Welt um ihr Wohl sorgten.
Obwohl mich die Arbeit von meinen eigenen Problemen ablenkte, musste ich doch immer wieder an Jakub denken. Durch die Anwesenheit der Kinder wurde ich mehr als einmal daran erinnert, dass wir längst selbst eine Familie hätten haben können, wäre der Krieg nicht gekommen. Nachts durchlebte ich in Gedanken noch einmal unsere gemeinsamen Momente, sein Werben um mich, unsere Hochzeit und die Zeit danach. Während ich im Bett lag und an die niedrige Decke starrte, dachte ich an die Male, die wir miteinander geschlafen hatten, an die stillen, unerwarteten Freuden, die Jakub mir wie beiläufig beigebracht hatte. Wo war er jetzt? Jede Nacht war ich voller Sorge um ihn. Und ich fragte mich, wer wohl bei ihm war. Es musste auch Frauen im Widerstand geben, obwohl Jakub mich bislang nicht gefragt hatte, ob ich mich ihm anschließen wollte. Von Scham erfüllt rätselte ich nicht, ob Jakub verwundet oder ob ihm warm genug war, sondern ob eine mutigere, forschere Frau als ich ihm sein Herz gestohlen hatte.
Mir fehlte aber nicht nur Jakub, sondern jegliche Form von Gesellschaft. Meine Eltern waren nach ihren zwölfstündigen Schichten am Abend so abgekämpft, dass sie gerade noch Kraft genug besaßen, um ihre Rationen zu essen und sich dann schlafen zu legen. Das Ghetto forderte von beiden einen gewaltigen Tribut, obwohl sie erst seit Kurzem hier waren. Mir kam es vor, als seien sie über Nacht um Jahre gealtert. Für meinen einst so gesunden und starken Vater schien jeder Schritt eine enorme Anstrengung zu bedeuten. Auch meine Mutter bewegte sich deutlich langsamer und mühsamer. Ihr volles kastanienfarbenes Haar wirkte nun spröde und war von grauen Strähnen durchzogen. Ich weiß, sie beide fanden nachts nur wenig Schlaf. Manchmal, wenn ich im Bett lag, konnte ich das erstickte Schluchzen meiner Mutter durch den Vorhang hören, der unsere Schlafquartiere voneinander trennte. “Reisa, Reisa”, sagte mein Vater dann immer wieder, um sie zu beruhigen. Ihr Weinen versetzte mich jedes Mal in Unruhe. Meine Mutter war in dem kleinen Dorf Przemysl in einer östlichen Region aufgewachsen, die bis zum Großen Krieg unter russischer Kontrolle stand und Schauplatz plötzlicher, heftiger Gewaltausbrüche gegen die jüdische Bevölkerung wurde. Mutter war Zeuge gewesen, wie man Häuser in Brand setzte, wie man den Bauern ihr Vieh wegnahm und jeden ermordete, der an Widerstand auch nur dachte. Es war die Brutalität der Pogrome gewesen, die sie veranlasst hatte, Richtung Westen nach Kraków zu fliehen, nachdem ihre Eltern durch die erbarmungslosen Lebensbedingungen erkrankten und schließlich gestorben waren. Ihr selbst war es gelungen zu überleben, doch sie wusste, wir hatten allen Grund, uns vor dem zu fürchten, was uns erwartete.
Mit den anderen Frauen, die im Waisenhaus arbeiteten, verband mich nicht viel. Sie waren fünfzig und älter, die meisten kamen aus den Dörfern. Nicht dass sie unfreundlich gewesen wären, doch so viele Kinder zu baden, zu füttern und zu beaufsichtigen, ließ nur wenig Zeit für private Gespräche. Hadassa Nederman war diejenige, die noch am ehesten wie eine Freundin für mich war. Die beleibte Witwe aus dem nahe gelegenen Dorf Bochnia fand immer Zeit für ein freundliches Wort oder einen kleinen
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