Der Kommandant und das Mädchen
erfuhr ich, dass Naturwissenschaften sein Hauptfach war, seine wahre Leidenschaft aber der Politik galt. Er war in verschiedenen Aktivistengruppen tätig und schrieb Artikel für studentische und lokale Zeitungen, die nicht nur der polnischen Regierung gegenüber kritisch waren, sondern auch der – wie er es nannte – “geplanten Vorherrschaft des Deutschen Reichs über seine Nachbarn”. Ich machte mir Sorgen, es könnte gefährlich sein, so offen seine Meinung kundzutun. Während die Juden in meinem Viertel auf den Stufen vor ihren Häusern, vor den Synagogen und in den Geschäften hitzig über die politische Lage und die Welt im Allgemeinen diskutierten, war ich so erzogen worden, mich im Umgang mit anderen Menschen eher bedeckt zu halten. Doch Jakub, Sohn des bekannten Soziologen Maximilian Bau, kannte solche Bedenken nicht. Wenn ich ihm zuhörte, wie er redete, ihn beobachtete, wie seine Augen voller Eifer brannten und wie er gestikulierte, dann vergaß ich, mich zu fürchten.
Mich erstaunte, dass ein Student aus einer so wohlhabenden und aufgeklärten Familie sich für mich interessierte – die Tochter eines armen orthodoxen Bäckers. Doch selbst wenn ihm die Unterschiede unserer Herkunft bewusst gewesen sein sollten, so schien er sich daran nicht zu stören. Wir begannen, jeden Sonntagnachmittag gemeinsam zu verbringen, zu reden und am Ufer der Wisła entlangzuspazieren. “Ich sollte mich besser auf den Heimweg machen”, sagte ich an einem Sonntag im April, als es bereits düster wurde. Jakub und ich waren dem Flusslauf dort gefolgt, wo er sich um die Wawelburg wand. Wir hatten uns so angeregt unterhalten, dass mir jegliches Zeitgefühl abhandengekommen war. “Meine Eltern werden sich fragen, wo ich bleibe.”
“Ja, ich sollte sie auch bald kennenlernen”, erwiderte er so beiläufig, dass ich mitten in der Bewegung innehielt. “So etwas macht man doch, wenn man die Eltern um Erlaubnis bitten will, mit ihrer Tochter auszugehen.” Ich war zu verblüfft, um zu antworten. Obwohl Jakub und ich in den letzten Monaten viel Zeit miteinander verbracht hatten und ich wusste, dass ihm meine Gesellschaft angenehm war, hätte ich nie gedacht, dass er diesen Schritt in Erwägung zog. Er beugte sich vor und legte seine Finger unter mein Kinn, sodass ich das Leder seiner Handschuhe auf meiner Haut spürte. Behutsam presste er zum ersten Mal seine Lippen auf meinen Mund. Wir verharrten in dieser Haltung, bis ich das Gefühl hatte, der Boden würde unter meinen Füßen weggezogen und ich müsse ohnmächtig werden.
Wenn ich jetzt an Jakubs Kuss denke, fühle ich Wärme in mir aufsteigen. Hör auf damit, ermahne ich mich, doch vergebens. Knapp ein Jahr ist es her, dass ich zum letzten Mal meinen Ehemann gesehen und ihn berührt habe. Mein ganzer Körper schmerzt vor Sehnsucht nach ihm.
Ein dumpf klickendes Geräusch reißt mich aus meinen Gedanken, und ich kehre ins Hier und Jetzt zurück. Noch immer stehe ich vor dem gelben Haus und schaue nach oben, da wird die Haustür geöffnet, und eine ältere, gut gekleidete Frau tritt heraus. Als sie mich und Łukasz bemerkt, stutzt sie. Ich sehe ihr an, dass sie überlegt, wer wir wohl sein mögen und warum wir vor ihrem Haus stehen. Dann wendet sie sich abweisend um, verschließt die Tür und steigt die Stufen hinab. Das hier ist jetzt ihr Zuhause. Es reicht, ermahne ich mich. Ich kann es mir nicht erlauben, irgendetwas zu tun, das Aufmerksamkeit auf mich lenkt. Ich schüttele den Kopf und versuche, mich von Jakubs Bild vor meinem geistigen Auge zu befreien.
“Komm, Łukasz”, sage ich laut und ziehe sanft am Arm des Jungen. Wir gehen weiter und durchqueren die Planty, jenen breiten Streifen Parklandschaft, der sich wie ein Ring um die Innenstadt zieht. An den Bäumen sind bereits die ersten Knospen zu sehen, doch sie werden sicherlich einem späten Frost zum Opfer fallen. Łukasz umklammert meine Hand fester, als er mit großen Augen die Eichhörnchen beobachtet, die durchs Gebüsch turnen, als sei der Frühling gekommen. Während wir weitergehen, kann ich förmlich fühlen, wie die Stadt hinter mir zurückfällt. Fünf Minuten später haben wir die Aleje Krasińskiego erreicht, den breiten Boulevard, den die Deutschen zusammen mit der Aleje Mickiewicza und der Aleje Słowackiego schlicht in den “Außenring” umbenannt haben. Zu meiner Linken verläuft die Straße nach Süden bis zum Fluss, wo sie in eine Brücke übergeht. Ich bleibe stehen und schaue dorthin. Auf
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