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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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per Vidiphon bei Witwe Flumm angerufen hatte, um darauf zu
dringen, daß sie mit Lilit schnellstens zur Burg
zurückkehrte.
    Das Arbeitszimmer gehörte jetzt uns – die ganze
verdammte Festung gehörte uns. Kusks Imperium war kampflos
zusammengebrochen. Wie sich herausstellte, verdankte der Zentaur
seinen freien Willen einem in seinen Hals eingesetzten Computer, und
sobald wir auf die entsprechenden Tasten gedrückt hatten, wurde
dieser potentielle Gegner gefügig und gehorsam. Was Horg betraf,
so war er natürlich betrübt, die Gärtnerarbeit eines
Jahres in Schutt und Asche gelegt zu sehen, aber er mußte nur
ein bißchen aufgemuntert werden, und schon sagte er Sachen wie:
»Ich habe Baron Kharsog nie getraut«, und: »In diesen
Samen hat etwas Böses gelebt.« Im Fall der Schüler war
nur der Anblick des armen, verrückten Creegmoor erforderlich,
damit sie erkannten, daß ein Abschluß im Lotosinstitut
bedeutete, daß ihr Gehirn in dem unheiligen Hain Wurzeln
schlagen würde. (Und was würde aus ihnen selbst werden?
Prill schilderte es uns hämisch: Sie würden mit
Siliziumchips bestückt und als Roboter für die Drecksarbeit
an die Dschungelee-Felder verkauft.)
    Sobald Prill mitbekam, daß wir die Macht übernommen
hatten, begann er zu behaupten, die Polizei von Ushumgallum werde uns
wegen vorsätzlichen Mordes verhaften. Ich konterte, indem ich
ihn an seine Komplizenschaft bei den wesentlich kühneren
Unternehmungen des Barons erinnerte. Daraufhin hörten die
Drohungen auf. Bevor er die Festung verließ, machte Prill sich
die Mühe, die Überreste des Barons zu verbrennen –
oder vielmehr den Sämling, die beste greifbare Entsprechung
für Kusks Überreste. Der alte Diener stand auf den Zinnen
der Burg und streute die Asche des Todesbaums in den Wind. Er nahm
den nächsten Zug in die Stadt. Ich war froh, ihn los zu sein.
Ich haßte ihn wegen seines Auftritts im Wohlverdienten
Nachtisch.
    Ich rollte mich auf die Seite und grub meine Fingernägel
geistesabwesend unter die kleinen Knöpfe, mit denen die Polster
befestigt waren. Ich hatte einen kannibalistischen Alptraum gehabt,
war dem Skalpell eines Verrückten entronnen, hatte den Garten in
Flammen aufgehen sehen, den Lotosfaktor geknackt und Kusks Ende
miterlebt – die letzten drei Tage waren wirklich ziemlich
ereignisreich gewesen. Es war ein angenehmes Gefühl, hier zu
liegen, einfach nur so dazuliegen und nichts zu tun.
    Aber das würde Urilla nicht zulassen. Sie wußte,
daß wir etwas zu erledigen hatten. Wir mußten einen Traum
entschlüsseln. Sie trommelte auf den Deckel des Vokalitapparats
und sagte: »Sprich, wann immer du willst.«
    Mein Blick wurde von der Reptilienetage in Kusks Menagerie
angezogen, von der Schnappschildkröte mit dem Totenkopf auf der
Schale. »In dem Moment, als ich den zweiten Ziegenbock
sah«, sagte ich, »hatte ich nur noch einen Gedanken im
Kopf, nämlich ›Judas am Krückstock, der kam im lauernden Lügner doch gar nicht vor!‹«
    Urilla nickte. »Ich habe den Vokalit gehört, den du
für Selig gemacht hast. Du hast nur von einem Ziegenbock
gesprochen. Von dem mit den Schlüsseln in den Hörnern. Du
hast geglaubt, der Höhepunkt der Kapsel – das Ereignis, das
den Träumer wahnsinnig machen sollte – sei der Moment, als
sich die Schlüssel in Käfer verwandeln und
wegfliegen.«
    »Weil ich das als den Höhepunkt ansehen wollte. Weil es in meiner Erinnerung der Höhepunkt war. Aber mein
Gehirn hat mich angelogen.«
    »Verdrängung«, sagte Urilla.
    »Verdrängung«, pflichtete ich ihr bei. Ich musterte
ihr betörendes Gesicht, ihre nicht wegzudiskutierenden
Brüste. Selbst mit einem Bart hätte sie nicht viel
Ähnlichkeit mit Freud gehabt.
    »Fangen wir damit an, wie die Hörner des Ziegenbocks
aufbrachen und die Schlüssel herausfielen. Du hast
vierundzwanzig Schlüssel gefunden, stimmt’s? Und die sind
über das Gras im zentralen Feld gekrabbelt.«
    »Krabbel, krabbel.«
    »Und dann sind sie losgeflogen?« fragte Urilla.
    »Ja«, antwortete ich.
    »Alle?«
    »Ja.«
    »Ausnahmslos alle?«
    »Genau.«
    »Wirklich? Denk nach, Quinny! Nein. Fühle! Nicht
bloß Worte. Gefühle!«
    Ich fühlte. Ich versenkte mich in mich selbst, wie Torin
Diffring es seinen Schauspielern bei der Probe für Thyestes befohlen hatte. Langsam, ganz langsam hörte ich auf, Quinjin
der Kritiker zu sein, und fing an, Quinjin der Träumer zu
werden. Ich war jetzt ein Teil der Lotoskapsel. Ich erinnerte
mich.
    Ja – da war er. Ein einzelner Käfer,

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