Der Kontinent der Lügen
Den
Baum des Schlaflehrers. Aber ohne dich schaffe ich das nicht.
Zuerst brauchen wir natürlich ein Webbuch. Ja – Der
Schlaflehrer.«
»Ein heilender Baum«, sagte Urilla nachdenklich, und zum
erstenmal spürte ich, wie ihre Skepsis gegenüber meiner
Interpretation in Vertrauen umschlug.
»Wir beide, Urilla – das große neue
Traumweberteam, so wie wir es uns immer gewünscht haben! Zum
Teufel mit der Bereinigung des Vergangenen! Zum Teufel mit
Sallie Sequenzia! Das hier ist unsere große gemeinsame
Arbeit!«
»Endlich machst du als Vater mal was richtig,
Quinny.«
Und dann begannen wir uns auf Freuds Couch zu lieben.
Urillas Lob hielt mich aufrecht, als ich ein paar Stunden, nachdem
wir einen ersten Entwurf des Schlaflehrers beendet hatten,
meine Tochter besuchen ging und feststellen mußte, daß
sie noch ausfallender war als sonst.
Ihre Symptome waren voll sichtbar. An den Schlafzimmerwänden
hingen ein Dutzend Zeichnungen von Goth; er war mit einer sexuellen
Praktik beschäftigt, für die man erst noch einen Namen
finden mußte. Seine Partnerin war eine gut entwickelte Frau,
bei der es sich möglicherweise um Lilit handelte, wie ich
befürchtete. Immer wenn ich mit ihr zu sprechen versuchte,
machte sie es mir unmöglich, indem sie sich die
Vokalit-Kopfhörer – den einzigen Bestandteil ihres
Geschenks zum vierzehnten Geburtstag, den ich nicht zerstört
hatte – über die Ohren zog. Immer wenn sie mit mir zu
sprechen versuchte, hatte sie dabei dicke Schokoladepfropfen im
Mund.
»Was hast du hier zu suchen, Traumgestalt?«
fragte sie im gleichen Moment, als ich die Tür aufmachte. Sie
lag ausgestreckt auf der Matratze, wie eine Lotosschluckerin auf
einem Opferaltar. »Bist du gekommen, um sie wieder zu entführen?«
Da sie ihre Ohren dichtgemacht hatte, hörte sie nicht, wie
ich sagte: »Heute nacht hatte ich einen schrecklichen Traum. Ich
war bei einem Bankett, und…«
»Bring sie wieder zu Goth! Bring sie zu ihm!« Sie
spuckte beim Sprechen. Etwas von dem Speichel traf mein Gesicht.
Wenn sie von Lippen hätte ablesen können, hätte sie
meine Antwort verstanden. »Goth ist tot, du kleines
Arschloch!«
»Scher dich weg von ihr! Eschika kyrikusch
makesch!«
»Es gibt so etwas wie die Wirklichkeit!« sagte
ich. »Ich liebe dich«, fügte ich hinzu und tastete
mich haltsuchend aus dem Zimmer.
Jetzt kam alles auf den Schlaflehrer an.
20
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Der Schlaflehrer
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Träume sind als Proben fürs Leben bezeichnet worden. Wie
nennt man dann eine Probe für einen Traum? Ganz gleich, wie die
Bezeichnung lauten mochte, genau das wollte die Schlaflehrer- Truppegerade tun – eine Probe für einen
Traum abhalten. Urilla, Jonnie und ich – der Traum hatte ein
richtiges Staraufgebot. Wir liefen draußen vor dem Irrgarten
herum, verschränkten die Arme gegen die Kälte und warteten
auf unseren Regisseur. Wind heulte über die Wiese und erzeugte
Flutwellen im Gras. Atemwolken quollen uns stoßweise aus dem
Mund. Wir schienen an Innern Explosionen zu leiden, als ob wir
Verbrennungsmotoren wären.
Alles war bereit.
Wir kannten unseren Text.
Trotz des brutalen Klimas, das oben auf der Kharsog-Festung
herrschte, war die Wiese wieder so grün wie früher. Horg
war ein Weltklassegärtner.
Der Brunnen war wieder aufgefüllt worden. Erneut wurden der
als Gefängnis dienende Felsbrocken und die Ketten von Blut
umspült: von zweitausend Litern Blut, um genau zu sein, und
weiteren tausend Litern als Reserve.
Nur der Himmel war falsch. Vor Jahren, als der lauernde
Lügner genau an dieser Stelle inszeniert worden war, hatte
der Himmel von Gewitterwolken gewimmelt und war von einem
tödlichen Grau gewesen. Jetzt sah er klar und blau aus. Da
konnte man nichts machen.
Das künstliche Blut war nur einer der vielen seltsamen
Artikel, die wir entdeckt hatten, als wir in die verbotenen
Stockwerke der Festung eindrangen. Die Schatzkammern waren voll von
Lotoskapsel-Requisiten, Lotoskapsel-Kostümen und
Lotoskapsel-Bühnenbildern gewesen. Als wir sie betraten, hatten
wir das Gefühl, die allergeheimsten Heiligtümer von Kusks
Phantasie zu verletzen. In einem Raum lagen nur Androiden, die als
mythologische Ungeheuer zurechtgemacht waren. Ein anderer enthielt
nichts als Waffen, darunter auch Jonnies Schwert. Ein weiterer:
Operationstische und Arzneimittel. Ein weiterer: Folterinstrumente.
Ein weiterer: Köpfe.
»Wo, zum Teufel, steckt dieser Torin?« brüllte Jonnie plötzlich und zog sein Schwert. »Wenn
er
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